Interventionsteams EU-Südost: Gelsenkirchener Erfindung kämpft seit über zehn Jahren gegen mafiöse Strukturen und Sozialleistungsmissbrauch
Oberbürgermeisterin Karin Welge zieht Bilanz auf lokaler Ebene und begrüßt zugleich den Vorstoß von Bundesarbeitsministerin Bas, das Problem stärker in den politischen Fokus zu rücken
05. Juni 2025, 13:43 Uhr | Stadt Gelsenkirchen
Bildrechte: Stadt Gelsenkirchen
Es war und ist zweifellos eine der großen Herausforderungen für die Stadt Gelsenkirchen: Die Armutszuwanderung aus Bulgarien und Rumänien, die ermöglicht wird durch die Regelungen zur Arbeitnehmerfreizügigkeit in der Europäischen Union (EU). Diese geben Staatsangehörigen der EU-Mitgliedstaaten das Recht, ihren Arbeitsplatz innerhalb der EU unter bestimmten Bedingungen frei zu wählen.
„Oft ist es aber eine Zuwanderung in die Sozialsysteme. Denn schon wenige Stunden einer Arbeitstätigkeit reichen aus, um ergänzende Sozialleistungen zu beziehen“, erläutert Gelsenkirchens Oberbürgermeisterin Karin Welge. „Häufig leben die Menschen in heruntergekommenen Häusern. Die Wohnungen wären bei dem Überhang an Wohnraum in Gelsenkirchen sonst nicht vermietbar. Da es Zugewanderte aus EU-Ost schwer haben, andere Wohnungen zu finden, leben sie zu häufig überzogenen Preisen in schwierigen Verhältnissen - oft als Opfer krimineller Strukturen. Darauf weisen wir seit Jahren hin, bislang leider ohne Reaktionen bei Bund und EU. Umso mehr freue ich mich, dass der Besuch von Sozialdezernentin Andrea Henze und mir im Bundeskanzleramt im letzten Jahr und unsere intensiven Gespräche seitdem nun offenbar Wirkung gezeigt haben und Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas und NRW-Arbeitsminister Karl-Josef Laumann das Problem erkannt haben und den organisierten Missbrauch von Sozialleistungen stoppen wollen. Hier können sie gerne auf Erkenntnisse aus Gelsenkirchen zurückgreifen. Wir stehen für Gespräche gerne zur Verfügung.“
Auch wenn viele Zugewanderte selbst Opfer sind, belasten sie allerdings auch oft den sozialen Frieden in Quartieren, wenn sie sich nicht an Regeln des Zusammenlebens halten. Vermüllung und Lärm zum Beispiel beeinträchtigen den sozialen Frieden stark.
Schon als Vorständin für Arbeit und Soziales brachte Karin Welge im Jahr 2013 das Handlungskonzept „Zuwanderung im Rahmen der EU-Osterweiterung: Bulgarien und Rumänien“ auf den Weg. „Wir waren seinerzeit Vorreiter. Andere Städte von Hagen bis Duisburg haben nach Gelsenkirchen geschaut und den einen oder anderen Ansatz aus dem Handlungskonzept aufgegriffen“, blickt Karin Welge zurück. Im letzten Jahr ihrer Amtszeit als Gelsenkirchens Oberbürgermeisterin zieht sie nun Bilanz.
Wichtiger Akteur: Interventionsteam EU-Ost seit 2014
Wesentlicher Akteur des Handlungskonzepts ist das Interventionsteam EU-Ost, das bereits im Jahr 2014 seine Arbeit aufgenommen hat. Das Team besteht aus Einsatzkräften des Kommunalen Ordnungsdienstes und des Verkehrsüberwachungsdienstes sowie aus Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Stadtplanung, der Bauordnung und aus Sprachmittlerinnen und -mittlern. Gemeinsam mit dem Jobcenter Gelsenkirchen, dem örtlichen Stromversorger ELE und unterstützt von der Polizei Gelsenkirchen kontrolliert das Team regelmäßig Häuser in der Stadt.
Oberbürgermeisterin Welge verdeutlich die Dimension der in der Regel zweimal im Monat durchgeführten Kontrollen mit Zahlen: „Allein im Jahr 2024 wurden rund 160 Gebäude mit über 500 Wohnungen kontrolliert. Bei weit mehr als der Hälfte der Kontrollen führte dies zu bauordnungsrechtlichen oder wohnungsaufsichtsrechtlichen Verfahren.“ Blickt man auf die Jahre von 2014 bis 2023 summiert sich die Zahl eingeleiteter Verfahren auf fast 1.500.
1.500 wohnungsaufsichtsrechtliche Verfahren, 4.500 Personen von Amts wegen abgemeldet, über 600 Fälle von Sozialleistungsmissbrauch aufgedeckt
Bei den Kontrollen der Problemimmobilien geht es aber nicht nur um bauliche Mängel. So wurden fast 4.500 Personen von Amts wegen abgemeldet, da sie unter der angemeldeten Adresse nicht mehr anzutreffen waren. In der Folge bezogen diese Personen keine Leistungen mehr vom Jobcenter. Für die Jahre von 2019 bis 2023 führt die Statistik den unberechtigten Bezug von Sozialleistungen in mehr als 600 Fällen auf, die vom Interventionsteam ermittelt wurden.
„Auch im Umfeld der Problemimmobilien wird kontrolliert. In den Jahren von 2019 bis 2023 wurden zum Beispiel über 2500 verschiede Verkehrsverstöße geahndet und 275 Verfahren wegen abgestellter Schrottfahrzeuge eingeleitet“, listet die Oberbürgermeisterin auf. Sie sieht sich bestätigt, dass der Fokus auf die Problemimmobilien richtig gewählt ist, um den negativen Folgen der Zuwanderung aus EU-Ost zu begegnen. „Die Arbeit des Interventionsteams konnte in vielen Quartieren erfolgreich Missständen entgegenwirken“ bilanziert Oberbürgermeisterin Karin Welge.
Im Jahr 2024 verzeichnete die Stadt mit etwa 2100 Zuzügen aus Rumänien oder Bulgarien die wenigsten Zuzüge seit Beginn der Kontrollen durch das Interventionsteam. Hingegen wurde mit rund 900 Fortzügen die bislang höchste Zahl an Fortzügen ermittelt.
„Ich führe diese Entwicklung auf die kontinuierliche Arbeit des Interventionsteams zurück“, so Welge. Dennoch bleibe noch viel zu tun, um den Bestand an Problemimmobilien weiter zu vermindern. „Dies ist unser Ziel, das wir beharrlich verfolgen und für das wir einen langen Atem brauchen“, führt die Oberbürgermeisterin weiter aus.
Nicht markttaugliche Immobilien vom Markt zu nehmen, dies gelingt zunehmend mit Hilfe des Ministeriums für Heimat, Kommunales, Bau und Digitalisierung des Landes Nordrhein-Westfalen. Seit der Unterzeichnung der Zukunftspartnerschaft des Landes NRW und der Stadt Gelsenkirchen wurde die Stabsstelle Zukunftspartnerschaft Wohnen bei Stadtbaurat Heidenreich eingerichtet sowie ein zweiter Geschäftsbereich der Stadterneuerungsgesellschaft Gelsenkirchen gegründet. Mit finanzieller Unterstützung des Landes in Höhe von bisher zehn Millionen Euro konnten bereits Problemimmobilien vom Markt genommen werden. Jüngsten Beispiel ist der Ankauf von Immobilien am Ahlmannshof. Das Ziel ist bis zum Jahr 2032 insgesamt 3000 nicht zukunftsfähige Wohneinheiten zurückzubauen, städtebaulich bedeutsame Wohngebäude wiederherzustellen sowie Grün- und Gartenflächen herzurichten.
Sozialleistungsmissbrauch wird bekämpft
Neben dem Fokus auf die Reduzierung von Problemimmobilien ist ein weiterer wesentlicher Teil des Handlungskonzepts EU-Ost den missbräuchlichen Bezug von Sozialleistungen einzudämmen. Als Pilotkommune für das Projekt „Fälschungssichere Schulbescheinigung" überprüfte die Stadt, ob Schulkinder nur nicht regelmäßig am Unterricht teilnehmen oder ob sie vielleicht gar nicht mehr in Gelsenkirchen leben und trotzdem Kindergeld bezogen wird. Seit dem Jahr 2020 ist Gelsenkirchen beim Modellprojekt MISSIMO des Landes NRW dabei. Das Projekt soll Sozialleistungsmissbrauch auf. Die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Behörden, darunter die Familienkasse NRW, das Einwohnermeldeamt, das Gesundheitsamt, Schulen, das Jobcenter und die Polizei arbeiten eng zusammen, um organisierte Kriminalität zu bekämpfen, die Sozialleistungen missbräuchlich nutzt. Das „Geschäftsmodell“: Kriminelle locken vorrangig kinderreiche Familien aus Südosteuropa mit falschen Versprechen nach Deutschland, um für sie Sozialleistungen wie Kindergeld zu beantragen und sie in oft menschenunwürdigen Wohnungen zu überzogenen Mieten unterzubringen.
Kräfte werden gebündelt
Neben den repressiven Maßnahmen setzt Gelsenkirchen aber auch auf die Bündelung von Kräften, um negative Entwicklungen in Stadtvierteln zu erkennen und diesen begegnen zu können. In den Stadtteilen Rotthausen und Horst wird ein sogenannter sozial-integrativer Ansatz verfolgt. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Jugendsozialarbeit, der Stadterneuerung und des Kommunalen Ordnungsdienstes arbeiten hier eng mit Wohlfahrtsverbänden zusammen. Ein weiteres Beispiel findet sich in Ückendorf. Was im Jahr 2021 als Modellprojekt gestartet wurde, ist inzwischen ein wesentlicher Baustein, um den negativen Folgen der Zuwanderung aus EU-Ost entgegenzuwirken. Die Integrative Präventionsarbeit (IPA) bündelt in der Ückendorfer Straße 138 die Kräfte der Polizei, des Kommunalen Ordnungsdienstes und der Caritas unter einem Dach. Hier ist die zentrale Anlaufstelle für Bürgerinnen und Bürger in Ückendorf-Nord. „IPA nebst Anlaufstelle gehören zu den Projekten mit denen die Stadt Gelsenkirchen auf die Herausforderungen durch die Zuwanderung aus Südosteuropa reagiert. Ihre Keimzelle haben all diese Projekte im Handlungskonzept aus dem Jahr 2016“, erläutert Oberbürgermeisterin Welge und hebt hervor: „Gelsenkirchen ist mit vielen Projekten neue Wege gegangen und war mehr als einmal Vorreiter, wenn es darum ging gegen Problemimmobilien vorzugehen oder die Folgen der Armutszuwanderung aus Bulgarien und Rumänien zu begegnen. Doch unsere Kräfte sind begrenzt.“
Arbeitnehmerfreizügigkeit neu regeln
Immer wieder hat die Oberbürgermeisterin daher auf Landes- und Bundesebene und auch bei der Europäischen Union auf die Armutszuwanderung als Folge der Arbeitnehmerfreizügigkeit hingewiesen. Ende Januar dieses Jahres hat der Kommunalrat im Regionalverband Ruhr (RVR) diese und weitere Punkte mit Spitzenvertreterinnen und -vertretern der EU beim Ruhr Dialog in Brüssel diskutiert und Forderungen eingebracht.
„Vor allem muss der Zuwanderungsdruck aus Rumänien und Bulgarien geringer werden. Helfen würde, die EU-Rahmenbedingungen bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit anzupassen und den Arbeitnehmerbegriff zu überarbeiten“, so Karin Welge. „Wir müssen Arbeitnehmerfreizügigkeit neu regeln, um eine weitere Segregation und Spaltung in der Stadt zu verhindern. So lange wie dies nicht geschieht, arbeiten wir an Symptomen nicht aber an der Ursache“, stellt die Oberbürgermeisterin fest und sagt dennoch: „Wir machen weiter, allen Erschwernissen und Hindernissen zum Trotz.“ Da käme die weitere Hilfe, die Ministerin Ina Scharrenbach bei ihrem Besuch der Stadt am Mittwoch, 11. Juni, überbringen will, gerade recht. Mit weiteren Geldern des Landes NRW werde die Stadt im Kampf gegen Problemimmobilien nicht nachlassen, verspricht die Oberbürgermeisterin.
Die EU sieht sie in der Pflicht, die Kommunen bei den zu erbringenden erheblichen Integrationsleistungen stärker und kontinuierlich zu unterstützen. Außerdem fordert die Oberbürgermeisterin EU-weite Standards für die Erhebung und den Austausch der Daten zur Arbeitnehmerfreizügigkeit und zur Armutsmigration. „Erforderlich ist zudem eine höhere Förderung mit Geldern aus dem Europäischen Sozialfond, um Kommunen wie Gelsenkirchen beim Ankauf und bei den Kosten für den Abriss von Problemimmobilien zu unterstützen.“