13. Dezember 2018, 17:05 Uhr | Stadt Gelsenkirchen
Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, meine sehr verehrten Damen und Herren Stadtverordnete, liebe Bürgerinnen und Bürger,
die Geschichte des Bergbaus in Gelsenkirchen ist so reichhaltig und so eng mit nahezu allen Bereichen der Stadtgeschichte verwoben, dass ich eigentlich stundenlang darüber sprechen könnte, ohne Gefahr zu laufen, mich zu wiederholen oder die Zuhörerinnen und Zuhörer zu langweilen. Da Sie heute aber nicht nur zurückschauen möchten, sondern sich auch intensiv mit der Zukunft unserer Stadt befassen werden, beschränke ich mich mit dem Mut zur Lücke tatsächlich nur auf einige Schlaglichter.
Der Monat Dezember ist für Gelsenkirchen traditionell eng mit der Geschichte der Steinkohle verknüpft. Heute vor fast genau 10 Jahren, am 19. Dezember 2008, stellte mit der Zeche Westerholt das letzte Gelsenkirchener Bergwerk seine Förderung ein. Damit endete die über 150jährige Geschichte des Bergbaus in Gelsenkirchen. Und in wenigen Tagen wird der Steinkohlebergbau in Deutschland endgültig der Vergangenheit angehören. Dies ist Anlass genug für einen kurzen Rückblick darauf, welche Bedeutung die Kohle und ihr Abbau für die Geschichte Gelsenkirchens hatten.
Vor 150 Jahren, am 2. Dezember 1868, wurde die Zeche Graf Bismarck gegründet, die später das größte Steinkohlebergwerk in unserer Stadt werden sollte und sogar einem Stadtteil ihren Namen gab. Die Geschichte dieser Zeche steht beispielhaft für die Gelsenkirchener Bergbaugeschichte. Sie erzählt
vom Aufstieg aus dem Nichts,
von Erfinder- und Unternehmergeist,
von harter und gefährlicher Arbeit,
von der Ausbeutung von Menschen, insbesondere auch derjenigen, die in beiden Weltkriegen nach Gelsenkirchen verschleppt und zur Arbeit unter Tage gezwungen wurden,
von ökonomischen Chancen und ökologischen Risiken,
von Konflikten über und unter Tage,
von Solidarität und Integration,
von Expansion und Krise.
In Erinnerung geblieben ist vor allem das Ende, der sogenannte „Knall von Gelsenkirchen“ im Jahr 1966. Damals verkündete die Betreibergesellschaft höchst überraschend die umgehende Schließung von Graf Bismarck. Auf dieser modernen Großzeche waren fast 10.000 Menschen beschäftigt, deren Lebensplanung nun binnen weniger Monate durchkreuzt wurde. Aller Protest und auch die schwarzen Fahnen auf der Cranger Straße in Erle, die im Februar 1966 sogar das Titelblatt des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ zeigte, konnten das Ende von Graf Bismarck nicht verhindern. Im gleichen Jahr schloss auch die Zeche Dahlbusch in Rotthausen für immer ihre Werkstore. Den Menschen in Gelsenkirchen wurde schlagartig bewusst, dass die Kohlekrise ihr Leben und ihre Stadt unwiderruflich verändern würde – und dass dieser Prozess, der schließlich als Strukturwandel bezeichnet wurde, sehr schmerzhaft sein würde.
Denn Gelsenkirchen war zwischenzeitlich mit seinen 14 Zechen und über 70 Schächten eine der bedeutendsten Kohlestädte des europäischen Kontinents. Die Gelehrten streiten darüber, ob die Geschichte des Bergbaus auf dem heutigen Gelsenkirchener Stadtgebiet bereits 1848 mit der Abteufung des ersten Schachtes der späteren Zeche Dahlbusch in Rotthausen begann oder erst 1858 mit der Förderung der ersten Kohle durch die Zeche Hibernia in der Nähe des heutigen Hauptbahnhofes. Sicher ist jedenfalls: Die Stadt Gelsenkirchen gäbe es heute nicht, hätte die Welt um die Mitte des 19. Jahrhunderts nicht einen unersättlichen Hunger auf Kohle entwickelt.
Weil die industrielle Revolution Energie brauchte, musste auch das tief liegende schwarze Gold der Emscherniederung abgebaut werden. So entstand in den kleinen Bauernschaften und Dörfern beiderseits der Emscher Zeche um Zeche. Ich möchte es hier nicht versäumen, alle Zechen unserer Stadt in der Reihenfolge des Förderbeginns namentlich in Erinnerung zu rufen: Hibernia in der Altstadt, Dahlbusch in Rotthausen, Holland und die Vereinigte Rheinelbe & Alma in Ückendorf, Wilhelmine Victoria in Heßler, Consolidation in Schalke und Bismarck, Nordstern in Horst, Graf Bismarck in Bismarck, Erle und der Resser Mark, Hugo in Buer und Beckhausen, Ewald in Resse, Bergmannsglück und Westerholt in Hassel und schließlich noch die Zeche Scholven.
Diese Aufzählung zeigt, dass der Bergbau einst von Süden nach Norden in den Raum Gelsenkirchen einzog – und in der gleichen Richtung zog er sich ein knappes Jahrhundert später aus der Stadt zurück. Bereits um 1930 schlossen die ersten Zechen südlich der Emscher, am Anfang des 21. Jahrhunderts stellten dann auch die letzten Schachtanlagen im Stadtnorden die Förderung ein.
In der Zwischenzeit aber waren um die Fördertürme herum riesenhafte industrielle Komplexe entstanden. Zu den Bergwerken traten Kokereien, chemische Anlagen, Hüttenwerke und Glasfabriken, die die Kohle weiterverarbeiteten. Hinzu kamen zahlreiche Fabriken, die dem Bergbau zuarbeiteten: Seilereien, Gussstahl- und Kesselwerke, Maschinen- und Sprengstofffabriken.
Gleichzeitig siedelten sich hier hunderttausende Menschen an, die von nah und fern kamen, um an der Emscher ihr Glück zu suchen. Industriedörfer wuchsen aufeinander zu und verschmolzen schließlich zur Großstadt Gelsenkirchen. In einem Raum, der Mitte des 19. Jahrhunderts etwa 6.000 Einwohner gehabt hatte, lebten vor dem Ersten Weltkrieg weit über 300.000 Menschen – die Bevölkerung hatte sich in wenigen Jahrzehnten mehr als verfünfzigfacht.
Über Tage ließ der Bergbau Städte und letztlich eine neuartige Industriegesellschaft entstehen. Der weitaus größte Teil der bergmännischen Welt befand sich aber unter Tage und entzog sich den Blicken. Weitläufige Grubengebäude mit kilometerlangen Strecken auf verschiedenen Sohlen zogen sich unterhalb Gelsenkirchens durch die Erde. Am Ende wurden Teufen von über 1.300 m erreicht.
Der Vorstoß des Menschen in diese lebensfeindlichen Dimensionen hatte einen brutalen Preis. Hunderte Männer aus Gelsenkirchen, Horst und Buer starben bei Grubenkatastrophen, tausende kamen bei den unzähligen alltäglichen Arbeitsunfällen ums Leben. Heute sind wir auch verpflichtet, uns ihrer zu erinnern.
Der schlimmste Tag für den Bergbau in Gelsenkirchen war der 20. Mai 1950, als auf Zeche Dahlbusch fast 80 Bergleute einer Schlagwetter- und Kohlenstaubexplosion zum Opfer fielen. Hugo Ernst Käufer hat für diese tödlichen Gefahren unter Tage eindringliche Worte gefunden:
„Was denkt, fühlt und hofft wohl einer so in den letzten Sekunden zwischen Dasein und Verrecken, wenn das Feuer durch den Stollen rast, ihm die Luft nimmt, ihm die Haut verbrennt.“
In der Katastrophe zeigte sich aber immer wieder die spezielle Mentalität, die die Menschen im Ruhrgebiet ausmacht. Sie spiegelt sich im unermüdlichen Einsatz der Bergleute, die über ihre Grenzen gingen, um Opfer und Verschüttete zu bergen. Sie spiegelt sich in der Fähigkeit, innovative Lösungen zu finden. Das beste Beispiel ist die Dahlbuschbombe, eine Gelsenkirchener Erfindung, der Bergleute in aller Welt ihr Leben verdanken. Sie spiegelt sich im Zusammenhalt der Familien und in der Solidarität der Zechensiedlungen. Sie spiegelt sich nicht zuletzt in dem Willen, sich auch angesichts widrigster Umstände nicht unterkriegen zu lassen.
Unsere Stadt musste in den letzten Jahrzehnten lernen, ohne die Kohle und vor allem ohne die Arbeitsplätze, die sie garantiert hatte, zu leben. Gelsenkirchen hat dies gelernt und bleibt dabei dennoch eine Stadt auf Kohle: mit ihrem Stadtbild, mit ihren infrastrukturellen Besonderheiten, mit ihren Konversionsflächen, mit ihren Fördertürmen und Bergehalden und nicht zuletzt auch in den Köpfen der Gelsenkirchenerinnen und Gelsenkirchener.
Daher gilt es, auch zukünftig die Geschichte des Bergbaus zu pflegen und die Erinnerung daran wach zu halten. Dieser Aufgabe sieht sich nicht nur das Institut für Stadtgeschichte verpflichtet. Es gibt in Gelsenkirchen zahlreiche Vereine und Initiativen, die allen interessierten Bürgerinnen und Bürgern Einblicke in die historische Welt des Bergbaus ermöglichen und die sich insbesondere darum verdient machen, dieses Wissen einer jüngeren Generation zu vermitteln. Dazu zählen beispielsweise die Bergbausammlung Rotthausen, der Initiativkreis Bergwerk Consolidation, der Freundeskreis Nordstern, das kleine Museum und Schacht Hugo 2 in Buer und der Geschichtskreis Hassel/Bergmannsglück. Für ihr wunderbares Engagement gilt ihnen mein herzlicher Dank!
Wenn Gelsenkirchen in der Vergangenheit eines unter Beweis gestellt hat, dann dass die Menschen dieser Stadt auch mit den fundamentalsten Umwälzungen umgehen und Wandel meistern können – somit gibt uns die Geschichte hier und heute Anlass, optimistisch in die Zukunft zu schauen.
Glückauf!