04. Juli 2017, 10:51 Uhr | Stadt Gelsenkirchen
GE. Rund 100 Haupt- und Ehrenamtliche hatten sich Ende Juni im Kulturraum „die flora“ eingefunden, um den Tag zur Weiterbildung, Diskussion und Vernetzung sowie zur Entwicklung von Perspektiven zu nutzen. Offenbar traf die Veranstaltung genau die Bedürfnisse der in vielen Bereichen Engagierten – fast noch einmal so viele interessierte Menschen hätten teilnehmen wollen.
Eingeladen hatten die PSAG (Psychosoziale Arbeitsgemeinschaft/ Arbeitskreis Kultursensible Gesundheitsförderung) gemeinsam mit der Stadt Gelsenkirchen/ Referat Zuwanderung und Integration und die Kooperationspartner Stadt Gelsenkirchen/ Gleichstellungsstelle, Der Paritätische/Selbsthilfe-Kontaktstelle, der Evangelische Kirchenkreis Gelsenkirchen und Wattenscheid/ Genderreferat und der Präventionsrat Gelsenkirchen PräGE ohne deren Mitarbeit und Unterstützung die Tagung nicht hätte organisiert und finanziert werden können.
Brigitte Schönheit, Sprecherin der PSAG und impulsgebende Veranstalterin, erläuterte zunächst die Entstehungsgeschichte und Intention der Veranstaltung. Sollten doch hier ausdrücklich die Helfenden in der Arbeit mit geflüchteten, traumatisierten Frauen und Männern im Mittelpunkt des Interesses stehen; fundierte Informationen, Fragen der Selbstorganisation und Selbstfürsorge sowie Möglichkeiten der Vernetzung und die Entwicklung von Lösungsansätzen bei bestehenden Versorgungslücken den nötigen Raum finden und zu mehr Sicherheit im Handeln führen.
Zu Beginn stimmten Oberbürgermeister Frank Baranowski sowie die Vertreterin des Landesintegrationsrates, Ksenija Sakelšek, die Anwesenden mit ermutigenden Botschaften ein. Beide betonten die dringende Notwendigkeit, sich in der Arbeit mit Flüchtlingen auf veränderte Anforderungen einzustellen und sich professionell aufzustellen: “Jetzt müssen wir nicht mehr das Ankommen managen, sondern langfristig, professionell und systematisch Integration organisieren.“
Die geladenen Referentinnen brachten im Anschluss ihr Fachwissen, eine Fülle an Erfahrung und hohe kommunikative Kompetenz in die Tagung mit ein:
Dr. phil. Dima Zito (Dipl. Soz.päd. und Traumatherapeutin, Psychosoziales Zentrum Düsseldorf) legte ihren Schwerpunkt auf Informationen über die Auswirkungen von Traumata und mögliche Umgangsweisen mit traumatisierten Menschen. Sie erläuterte Möglichkeiten, Situationen zu schaffen, in denen u.a. durch Klarheit und Zuverlässigkeit zumindest kleine Räume und Nischen geschaffen werden, innerhalb derer Ruhe und Vertrauen entstehen und in denen hilfreiche Interventionen möglich werden können.
Malene Budde (Dipl. Soz.päd, Psychotherapeutin und Psychotraumatherapeutin im Auftrag von medica mondiale e.V, Köln) legte ihren Schwerpunkt auf die besonders schwierige Situation von Frauen auf der Flucht, die sehr häufig vielgestaltiger Gewalt ausgesetzt sind und erleben müssen, wie Kinder, Angehörige und Freund/Innen verletzt oder getötet werden. Verschleppung, Vergewaltigung, Ausbeutung, das Fehlen von Schutz- und Rückzugsräumen, Taten gegen Leib und Leben und das Fehlen effektiver Schutz-Strategien begleiten die Frauen bis zur Ankunft in Deutschland und darüber hinaus. Umso mehr betonte Frau Budde die dringende Notwendigkeit, den ehrenamtlich und hauptamtlich Helfenden ebenfalls Anleitung und Raum zur Selbstfürsorge und zum Selbstschutz zu gewähren, damit sich Trauer, Angst und Resignation nicht übertragen.
Viola Werner (Dipl. Soz.päd. und Kreative Leibtherapeutin, Institut für Soziale Innovationen Duisburg) brachte dem Auditorium einen Ansatz nahe, der über gestalterisch-bildnerische Kunst den Zugang zu geflüchteten Menschen herstellt. Dabei wird Kontakt zu den kreativen und heilenden Kräften sowohl bei Flüchtlingen als auch bei den anleitenden Künstlern hergestellt, um Erfahrungen z.T. auch ohne Sprache sichtbar zu machen und Menschen in ihren Ressourcen und Kompetenzen persönlich zu stärken.
Zu diesem Vortrag passte besonders die begleitende Ausstellung „Kinderträume“ des Kunstprojektes aus der Arbeit mit zehn syrischen Jugendlichen der Gelsenkirchener „Paritätischen Flüchtlings- und Migrantenberatung“, die den Betrachtern durch die ganz individuelle Darstellung von Fluchterleben von jungen Menschen unter die Haut gingen und die dem Fachtag einen besonderen Rahmen gab.
Unterstützt durch die einfühlsame und lebendige Moderation der bekannten Kölner Journalistin Cornelia Benninghoven erörterten erfahrene Gelsenkirchener Akteure anschließend im lebhaften Dialog mit dem Publikum drängende Anliegen für die Arbeit vor Ort. Auf dem Podium saßen Admin Bulic/Fachdienst „Zuwanderung-Integration-Flüchtlinge der AWO, Astrid Kiepert/Ausländer-und Flüchtlingsbüro des Ev. Kirchenkreise Gelsenkirchen und Wattenscheid, Martina Köhler/ Familiennetzwerk Südost Flüchtlinge - Der Paritätische, Barbara Korsmeier/ Frauenberatungs- und Kontaktstelle Gelsenkirchen, Michael Niehaus/Flüchtlingshilfe des Caritasverbandes und die Referentin Viola Werner.
Sowohl vom Podium als auch aus dem Auditorium wurde laut Veranstalterin, Brigitte Schönheit, Kritik an jahrelangen Versäumnissen in der Flüchtlingspolitik von Bund und Land und an der, sich nicht angemessen an menschlichen Bedürfnissen und Lebenslagen orientierenden bzw. aktuell sich verschärfenden Asylgesetzgebung geäußert, deren Auswirkungen zu zunehmender Perspektiv- und Hoffnungslosigkeit, anhaltendem psycho-sozialen Elend bei den Flüchtlingen und zu Ratlosigkeit und Resignation auch bei den Helfenden führen. Die Retraumatisierung im Anerkennungsverfahren und in abgeschotteten Lebenswelten, Sprachbarrieren, das Fehlen nicht nur sprachlich sondern auch inhaltlich ausgebildeter, vertrauenswürdiger Dolmetscher/innen, das „Ausbrennen“ der Helfenden, der immense Mangel an geeigneten (Trauma-therapeutisch ausgebildeten) Therapeut/innen und Ärzt/innen im ambulanten wie im stationären Bereich waren einige der Problembeschreibungen.
Aber es gab auch viele bemerkenswerte lösungsorientierte Ideen und Ansätze, die lokale Handlungsmöglichkeiten und mögliche Verbesserungen benannten.
Beispiele: die Schaffung einer Gelsenkirchener Anlaufstelle/Clearingstelle bzw. die Beantragung eines Psychosozialen Zentrums, die Entwicklung eines Leitfadens für die Begleitung von traumatisierten Flüchtlingen, die Schaffung von Angeboten zur Supervision/kollegialen Beratung für Ehrenamtliche und Semi-Professionelle, der Ausbau von Patenschaften, die stärkere Einbeziehung der ärztlich-therapeutisch-pflegerischen Fachleute in die Netzwerke, die Entwicklung eines standardisierten Verfahrens zur ärztlichen Begutachtung von traumatisierten Frauen und Männern im Anerkennungsverfahren, die trägerübergreifende Organisation einer tiefergehenden Qualifizierung/Fortbildung sowie die Entwicklung eines trägerübergreifenden organisierten Netzwerkes zur Verbesserung der Kommunikation für alle Gelsenkirchener, die mit traumatisierten Flüchtlingen in Kontakt sind.
Brigitte Schönheit, Sprecherin der PSAG zog zum Abschluss folgendes Fazit: „Gelsenkirchen hat ein großes Potential an ehrenamtlich und hauptamtlich Helfenden, die nachhaltig der vielfältigen Unterstützung, der Selbststärkung, der fachlichen Qualifizierung, Vernetzung und trägerübergreifenden Kooperationen bedürfen. Nun gilt es, mit „Mut zum Helfen und Handeln“ die Rahmenbedingungen dafür wie auch zur Unterstützung der zahlreichen Lösungsansätze zu gestalten und sowohl an die Bedürfnisse der geflohenen Menschen als auch an die, der engagiert Helfenden anzupassen. Diese Fachtagung war dazu ein Auftakt.“
Die PSAG – Psychosoziale Arbeitsgemeinschaft ist ein trägerübergreifender, parteiunabhängiger Zusammenschluss professionell und ehrenamtlich Helfender mit dem Ziel, die psychosoziale Versorgungslandschaft kontinuierlich zu verbessern und seit 40 Jahren in Gelsenkirchen erfolgreich aktiv.