Seinen 36. Geburtstag am 28. Juni 1945 erlebte Ernst August Papies, Sohn einer Bergmannsfamilie aus Buer, im befreiten Konzentrationslager Mauthausen.
Ernst Papies hatte mehr als sechs Jahre in deutschen Konzentrationslagern überlebt: zunächst Buchenwald, es folgte Mauthausen, dann Auschwitz (Außenlager) und danach erneut Mauthausen. Verlassen konnte er das Lager erst im August 1945, mehr als 4 Monate nach der Befreiung von Mauthausen durch die Alliierten. Und auch dann war er noch viel zu schwach, krank und ausgezehrt, wie er selbst sagte: „Ich bin als Skelett aus dem Lager gekommen.“
Der Deportation ins Konzentrationslager im Jahr 1939 waren drei Jahre Haft und Zwangsarbeit in den Moorlagern im Emsland vorausgegangen. Nach einer Denunziation wurde er kurz nach seiner Freilassung am 25. Juni 1939 in seinem Elternhaus in Buer-Erle erneut verhaftet. Warum? Das Gericht verurteilte ihn aufgrund des Paragraphen 175, dem von den Nationalsozialisten verschärften Gesetz zur Strafverfolgung von homosexuellen Männern. Ernst Papies war schwul, er wurde aus diesem Grund sozial und gesellschaftlich geächtet und ins Konzentrationslager gesteckt.
Erst im Herbst 1945 kehrte Ernst Papies nach beschwerlicher Rückreise zu seinen Eltern und Geschwistern zurück. Doch kam er dort kaum zur Ruhe. Bereits im Dezember 1945 begann er mit seinen Bemühungen um Anerkennung als Verfolgter des Naziregimes. Wie andere Rückkehrer aus dem Konzentrationslager forderte er auch für sich eine Entschädigung und Wiedergutmachung für die Freiheitsberaubung, für Schäden an Leib und Leben, die erlittenen Torturen und die Zwangsarbeit, die er hatte leisten müssen.
Doch wohin auch immer er sich wandte: Er erlebte die Ablehnung seiner Anträge und damit auch die Missachtung seiner besonderen Verfolgungserfahrungen – erfuhr eine erneute gesellschaftliche Ausgrenzung.
In den 10 Jahren zwischen 1945 und 1955 schrieb Ernst Papies Briefe an die Provinzialregierung in Münster, an den Bund der ehemaligen KZ-Häftlinge, an den Innen- und den Justizminister des Landes NRW sowie an das Wiedergutmachungsamt in Gelsenkirchen. Vergeblich. Außerdem stellte er Anträge und klagte auf Entschädigung, nachdem die Bundesregierung Anfang der 1950er Jahre das Bundesentschädigungsgesetz erlassen hatte. Mehrfach schrieb er an den Bundeskanzler Konrad Adenauer. Zunehmend verzweifelt fasste er am 16. Dezember 1953 seine Gefühlslage zusammen: „Die gesetzliche Ungerechtigkeit schreit zum Himmel ohne Ende. (…) Ich bin am Ende meiner seelischen Kraft.“
Ernst Papies erhielt keine Antwort vom damaligen Bundeskanzler. Er reiste nach Bonn, wurde nun im Bundeskanzleramt persönlich vorstellig, schrieb außerdem an den Bundespräsidenten Theodor Heuss, reichte Klage gegen die Ablehnung seines Antrages auf Anerkennung als NS-Opfer ein. Papies machte auf seine gesundheitlichen Schäden aufmerksam, seine eingeschränkte Arbeitsfähigkeit, er beschrieb die Folter im Konzentrationslager, die Sklavenarbeit der Häftlinge. Aber er hatte keinen Erfolg. Eine staatliche Anerkennung des erlittenen körperlichen und seelischen Leides, geschweige denn eine Wiedergutmachung, blieben ihm verwehrt. Verbittert befand Ernst Papies drei Jahre nach seiner Rückkehr aus dem Konzentrationslager: „Man muss beschämenderweise als Deutscher der Welt Recht geben, wenn sie uns zum Vorwurf macht, dass noch zu viel N.S. Welt- und Rechtsauffassung als Erbe zurückblieb.“
Nach dem Tod seiner Mutter im Jahr 1958 verließ Ernst Papies Gelsenkirchen. Er versuchte, an neuem Ort ein „neues“ Leben zu beginnen. Nach einer Zwischenstation in Ravensburg, Anfang der 1960er Jahre, ließ er sich in Konstanz am Bodensee nieder. Er wandte sich nun intensiv seinem Glauben zu. Nach Kontakten zu verschiedenen religiösen Gruppierungen fand er seinen Ruhepol bei den Zeugen Jehovas. Die evangelische Konfession hatte er abgelegt.
Insbesondere zwei Glaubensschwestern der Zeugen Jehovas gaben ihm Halt. Sie waren als „Bibelforscher“, wie Ernst Papies, von den Nationalsozialisten verfolgt und ins Konzentrationslager verschleppt worden. Im Gegensatz zu ihm erhielten sie eine Entschädigung für das erlittene Leid. Davon kauften sie eine Wohnung, die Ernst Papies bezog. Erstmals in seinen Leben hatte er eine eigene Wohnung! Seine Lebensgeister, sein Lebensmut, sein Humor, seine menschenfreundliche, gesellige Art, aber auch seine Fähigkeit zu materieller Genügsamkeit traten wieder in Erscheinung. Ein Zeitzeuge erinnerte sich gerne – noch zwanzig Jahre nach dem Tod von Papies: „Ernst hat man gerne eingeladen – er war ein aufrechter Typ. … Wenn man im Bus neben ihm saß, konnte man mit ihm nicht nicht ins Gespräch kommen!“
Ernst Papies lebte bescheiden. Bedingt durch die gesundheitlichen Schäden aus der Konzentrationslagerhaft konnte er als Arbeiter beruflich nicht mehr Fuß fassen. Er bestritt seinen Lebensunterhalt nun als Wanderhändler, verkaufte Haushaltsartikel auf Märkten, Festen und an Haustüren. Er war viel zu Fuß unterwegs und reiste mit den Zeugen Jehovas zu Kongressen, lebte seinen Freiheitsdrang aus.
Zumindest in der Öffentlichkeit spielte seine Homosexualität keine Rolle. Das ist für die damals schwulenfeindliche Atmosphäre der Bundesrepublik auch nicht überraschend. Ein Gemeindemitglied der Zeugen Jehovas in Konstanz antwortete auf die Frage, was denn geschehen wäre, wenn Ernst Papies weiterhin sexuelle Kontakte mit Männern gehabt hätte: „Wenn es uns bekannt geworden wäre, hätten wir Gespräche mit ihm geführt. Und wenn er dann homosexuelle Kontakte nicht eingestellt hätte, wäre er aus unserer Gemeinschaft ausgeschlossen worden.“ So hinterlässt seine enge Verbindung zu den Zeugen Jehovas auch einige Fragen.
Die Bundesrepublik und ihre maßgeblichen Akteure in Politik und Verwaltung verweigerten Homosexuellen noch viele Jahre nach Kriegsende die Anerkennung als Opfer des Naziregimes. Sie schlossen eine Berücksichtigung dieser Verfolgtengruppe im Bundesentschädigungsgesetz grundsätzlich aus. Es existierte sogar die von den Nationalsozialisten verschärfte Fassung des § 175 weiter, bis das Gesetz schließlich 1969 durch den Bundestag abgeändert wurde.
Bei seiner Rentenantragsstellung 1975 erfuhr Papies eine erneute Diskriminierung. Weder die drei Jahre Haft im Moorlager, noch die sechs Jahre im Konzentrationslager wurden bei der Rentenberechnung berücksichtigt oder anerkannt. Seine geringe Rente reichte nicht zum Leben, daher war er auf staatliche Hilfe angewiesen.
Am 16. Juni 1997 starb Ernst Papies im Alter von fast 88 Jahren in Konstanz.
Sein Lieblingsneffe Werner setzte auf dem Konstanzer Friedhof einen Grabstein, der nur zwei Worte trägt: „ONKEL ERNST“.
Ernst Papies hat zwar die Streichung des § 175 aus dem Strafgesetzbuch 1994 noch erlebt, doch galt er weiterhin als Straftäter. Erst im Jahr 2002 hob der Bundestag die Urteile nach § 175 aus der NS-Zeit auf und leitete spät den Weg der Rehabilitierung ein. Sein Neffe Werner erfuhr allerdings erst im Jahr 2014/15 durch die Recherchen für einen Stolperstein von der Verfolgung seines Onkels als Homosexueller. Offenbar hat Ernst Papies nach den vielen Demütigungen und Ausgrenzungserfahrungen geschwiegen. Aber auch seine zahlreichen Geschwister hatten es wohl vorgezogen, die Verfolgung und Inhaftierung ihres Bruders sowie dessen Homosexualität zu beschweigen.
Zur Würdigung und Erinnerung wurde 2015 ein Stolperstein für Ernst Papies vor dem Wohnhaus der Familie in der Cranger Str. 398 in Gelsenkirchen-Erle verlegt.