10. November 2017, 09:50 Uhr | Stadt Gelsenkirchen
Rede von Oberbürgermeister Frank Baranowski bei der Kundgebung zum 9. November
- Es gilt das gesprochene Wort! -
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
sind es nicht irritierende, ja verstörende Zeugnisse, die wir da gerade gehört haben? Stimmen aus einer fremden Welt, in die man sich erst mal hineindenken muss. Denn auch wenn wir alle selbstverständlich wissen, dass es diese Ereignisse so gab, so ist es dennoch schwer, sich konkret vorzustellen, dass das hier vor Ort einmal möglich war. In unserer Stadt, auf diesen Straßen, in Gelsenkirchen.
Es hat bis heute etwas Befremdendes, dass dieser Akt des Terrors einmal in unserer Stadt möglich war, verübt nicht von den geschulten und ferngesteuerten Schläfern irgendeines dunklen Kalifats, sondern von Nachbarn an Nachbarn.
Es schockiert, nach wie vor, dass Gelsenkirchener ihre eigenen Nachbarn gejagt, deren Hab und Gut zerschlagen, deren Gebetshäuser angezündet haben.
Nein, das lässt sich auch 79 Jahre später nicht so einfach fassen. Und darum ist es auch so richtig, dass wir dieses Datum – den 9. November – zum zentralen Tag unserer Gelsenkirchener Gedenkkultur gemacht haben. Darum ist es richtig, dass wir uns an diesem Tag versammeln, wieder und wieder, um in unserer Stadt und auf unseren Straßen öffentlich der Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Gelsenkirchen zu gedenken. Und um zugleich ein Bekenntnis gegen Rassismus und Diskriminierung und für Demokratie und Respekt abzugeben.
Dieses Bekenntnis, das lebt natürlich wie jedes andere öffentliche Statement von der Vielzahl der Stimmen, von der Zahl der Menschen, die es abgeben. Darum muss ich sagen: Ich bin froh, dass Sie heute Abend hier sind, dass Sie erneut der Einladung der Demokratischen Initiative gefolgt sind! Es ist gut, dass Sie alle sich an dieser Kundgebung beteiligen, heute genauso wie auch schon in den Jahren zuvor. Denn viele unter uns waren ja schon oft mit dabei, viele auch in den vergangenen Jahren. Auch in jenen Jahren, in denen sich mancher vielleicht einmal fragte: Muss ich eigentlich hingehen? Ist das wirklich nötig? Oder geht es heute nicht mal ohne mich?
Seien wir ehrlich: In den zurückliegenden Jahren konnte man die gesellschaftliche Lage durchaus so wahrnehmen, dass sich diese Fragen stellten.
Warum? Wohl deshalb: Weil die Gefahr fern schien. Weil man den begründeten Eindruck haben konnte, dass die Lektionen aus der deutschen Geschichte gelernt sind, in weiten Kreisen der Bevölkerung. Weil es einen von vielen geteilten erinnerungspolitischen Konsens gab, eine klare Haltung gegenüber der deutschen Vergangenheit, gegenüber den Verbrechen der NS-Zeit. Einen Konsens, den lediglich ein paar verstreute und verstrahlte Provokateure nicht teilten – Leute also, die argumentativ ohnehin nicht zu erreichen waren. Die man aber schon allein an ihrem Outfit und Haarschnitt als Ewiggestrige erkennen konnte. Und die ganz sicher nicht den Anspruch erheben konnten, für größere Gruppen unserer Gesellschaft zu sprechen.
So war das noch bis vor wenigen Jahren. So ist es aber inzwischen nicht mehr. Und das spüren wir.
Das gesellschaftliche Klima hat sich geändert. Der Konsens, den wir für verbürgt gehalten haben, der ist teilweise brüchig geworden. Auf vielen Feldern. Auch und gerade in der Geschichtspolitik, in unserem Verständnis der Vergangenheit. Aber nicht nur dort.
Schon seit geraumer Zeit ist zu verzeichnen, dass sich in unserer Gesellschaft und insbesondere in der politischen Auseinandersetzung die Tonlage verändert hat - und auch das Verständnis von Demokratie. Dass nicht nur neue Akteure hinzugekommen sind, sondern auch ein neuer, anderer Ton. Wir erleben, dass bewusst Ängste geschürt werden, um sie sogleich in populistischer Absicht zu missbrauchen.
Wir beobachten, wie mit Ressentiments gezielt Stimmung gemacht wird – Stimmung vor allem gegen Minderheiten, gegen Zuwanderer, aber auch gegen Vertreterinnen und Vertretern demokratischer Kräfte. Und wir stellen fest, dass die absichtsvoll platzierte rhetorische Entgleisung fast schon zu einem Standardmittel der politischen Auseinandersetzung geworden ist.
Bei all diesen Veränderungen spielt der Umgang mit der deutschen Geschichte keine Nebenrolle. Ganz im Gegenteil. Die Geschichte scheint der Schlüssel zu vielem zu sein. Inzwischen sitzt eine Partei im Bundestag, deren Spitzenkandidat wieder stolz auf die Taten deutscher Soldaten im Zweiten Weltkrieg sein möchte – und der das sagt, ohne auch nur in einem Nebensatz die Millionen Opfer dieses Krieges zu erwähnen, die ungeheuren Verbrechen, die ja erst durch die Erfolge der deutschen Soldaten möglich wurde.
Und der, wenn denn alles andere zu viel verlangt wäre, auch keinerlei Schmerz und Bedauern darüber zeigt, dass da eine ganze Generation an jungen Menschen auch aus Deutschland verheizt wurde, von denen viele starben und so viele andere an Körper und Seele verstümmelt wurden.
Wie gesagt: Die bewusst platzierte rhetorische Entgleisung, die ist ein Standardmittel der politischen Auseinandersetzung geworden. Es macht keinen Sinn, sich über jede Provokation zu empören. Das nicht. Aber dennoch ist es nötig, bitter nötig, eine rote Linie zu ziehen. Unser politischer und gesellschaftlicher Diskurs und auch unser Umgang untereinander braucht eine rote Linie, eine Grenze, die man nicht überschreiten soll und darf.
Denn wenn man eines aus der Vergangenheit lernen kann, aus der so schmerzlichen Vergangenheit unseres Landes, die am 9. November 1938 einen ersten Tiefpunkt erreichte, dann dies: Es ist immer die rhetorische Eskalation, die der realen vorausgeht. Erst werden die Grenzen dessen verschoben, was man sich zu sagen traut. Und dann, nach und nach, verschieben sich die Grenzen dessen, was man zu tun wagt.
Auf die sprachliche Ausgrenzung folgt die reale, auf die verbale Gewalt die ganz handfeste. So war das auch an jenem Novemberabend vor 79 Jahren – und möglich war das nur, weil zu viele zu lange geschwiegen hatten. Weil es ja lange nur Worte, keine Taten waren. Weil die Anfeindungen ja stets den anderen galten. Wie Martin Niemöller es sagte: Ich war ja kein Jude. Ich war auch kein Kommunist. Und dann war irgendwann niemand mehr da, der sich hätte für mich einsetzen können.
Nein: Rassismus, Diskriminierung, die verbale wie nonverbale Abwertung von Einzelnen oder von ganzen Gruppen – das trifft uns alle, das betrifft unser gesamtes Gemeinwesen. Und dem müssen wir uns auch so entgegenstellen, gemeinsam, als gesamtes Gemeinwesen, heute und in Zukunft sogar gerne noch etwas entschlossener und resoluter als in den zurückliegenden Jahren.
Der heutige Abend ist dafür ein wichtiger Termin, es ist gut, dass Sie alle mit Ihrer Teilnehme am Schweigezug und dieser Kundgebung ein Zeichen setzen – ein Zeichen für Haltung und Wahrhaftigkeit, für Engagement und Solidarität und für unsere Demokratie! Aber vergessen wir nicht:
Diese gesellschaftliche Auseinandersetzung wird noch länger anhalten, da werden wir alle noch häufiger gefragt sein – und da danke ich allen, die auch im Alltag wieder und wieder Position beziehen!