22. April 2013, 14:44 Uhr | Stadt Gelsenkirchen
- Es gilt das gesprochene Wort -
Sehr geehrter Herr Dr. Neifer,
lieber Josef Hülsdünker,
sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
herzlich willkommen zum Arbeitnehmerempfang 2013 der Stadt Gelsenkirchen! Ich freue mich, dass Sie da sind, dass Ihr unsere Einladung angenommen habt – und dass wir die Einladung auch in dieser Form aussprechen konnten. Dass wir den Empfang hier ausrichten können, im Werk Gelsenkirchen der Pilkington Deutschland AG. Dafür möchte ich mich bei Ihnen, Herr Dr. Neifer, ganz herzlich bedanken!
Sie ermöglichen es uns, mit unserem städtischen Arbeitnehmerempfang in einem Werk zu Gast zu sein, das ein gutes Stück Gelsenkirchener Wirtschaftsgeschichte verkörpert. Eine Geschichte, die ihre Anfänge – wie soll es anders sein – im Bergbau hat. Sie haben ja einige Grundzüge der Werks-Geschichte geschildert: Die erste Glashütte in Rotthausen entstand hier in den 1920er Jahren, weil so überschüssige Kokereigase genutzt werden konnten. Und seitdem, in bald 90 Jahren, ist das Werk durch zahlreiche Phasen des Strukturwandels gegangen. Immer neue Technologien kamen zur Anwendung, das Werk hat verschiedene Namen geführt und unterschiedliche Eigentümer gehabt.
Aber mindestens eine Konstante gab es eben auch: Die Tradition qualifizierter und spezialisierter Wertarbeit, die wurde über die Jahre und Jahrzehnte gepflegt und erhalten. Auch wenn das nicht einfach war und ist, auch wenn sich die Absatzmärkte ständig verändern und hart umkämpft sind, die Internationalisierung und der Strukturwandel der Wirtschaft permanent voranschreiten. Aber nicht zuletzt deshalbgehört Pilkington noch heute zu den zehn größten Arbeitgebern in Gelsenkirchen. Und dieses Werk ist eines der bedeutenden Industrie-Werke bei uns, das in den vergangenen Monaten keinen Anlass für negative Schlagzeilen geboten hat. Was sich leider nicht von allen so sagen lässt.
Beispiele für die Vorzüge der Mitbestimmung
Die zurückliegenden Monate – gerade jene rund um den Jahreswechsel – waren ja stark geprägt von unerfreulichen Nachrichten. Die Ankündigung, dass die Laufbänder bei Opel Bochum bald still stehen sollen; die plötzliche Unsicherheit um die Zukunft von ThyssenKrupp Electrical Steel; der Personalabbau bei TRW, der nun zwar in etwas geringeren Maße erfolgen soll als zunächst angedroht, aber doch happig genug; dazu die beunruhigenden Signale bei Sabic – all das macht einem zu schaffen. Wir alle sorgen uns um die Zukunft der betroffenen Kolleginnen und Kollegen und um ihre Arbeitsplätze.
Doch wenn man sich die Unternehmen anschaut, kann man auch ein paar Lehren ziehen. Denn es fällt ja auf, dass diese Krisen bei Firmen auftreten, bei denen die maßgeblichen Entscheidungen vor allem aus der Distanz getroffen wurden. Sei es, weil entfernte Unternehmenszentralen oder Investoren unrealistische Vorgaben machen und die Qualitäten der hiesigen Standorte gar nicht richtig kennen. Sei es, weil heimische Konzerne gewaltige Investitionen in Brasilien oder den USA tätigen, getrieben von überzogenen Erwartungen – und am Ende die Beschäftigten zu Hause für die Managementfehler einstehen lassen.
Einige Entscheidungsträger, das kann man inzwischen wohl sagen, wären gut beraten gewesen, wenn sie eher das Gespräch mit den Beschäftigten und ihren Interessenvertretern gesucht hätten. Wenn sie sich die Werke genauer angeschaut und die Vorteile der betrieblichen Mitbestimmung früher erkannt und auch für sich genutzt hätten. Ja, ich denke, wir haben da einige Beispiele, an denen sehr deutlich wird, wie wertvoll, ja nötig die Arbeitnehmer-Mitbestimmung ist – nicht allein für die Beschäftigten, sondern für das Wohl ganzer Unternehmen!
Jahr für Jahr mehr Arbeitsplätze
Aber so sehr einen diese Fälle beschäftigen können und die Aufmerksamkeit derzeit auf sich ziehen – bei einem Arbeitnehmerempfang dürfen wir es nicht unerwähnt lassen: Die Wirtschaft im Ruhrgebiet besteht längst nicht mehr allein aus industriellen Großbetrieben. Wir haben unsere Wirtschaftsstruktur diversifiziert, Jahr für Jahr kommen neue Betriebe hinzu, die wiederum zusätzliche Arbeitsplätze schaffen. Mal wird hier eine Stelle ausgeschrieben, mal werden dort zwei Leute eingestellt.
Meist geschieht das unterhalb der Wahrnehmungsschwelle der Öffentlichkeit. Aber der Statistik fällt es zum Glück dann doch auf: Im Saldo zeigen sich für Gelsenkirchen zuletzt regelmäßig Zuwächse von im Schnitt etwa 1.000 Arbeitsplätzen pro Jahr. 2007 hatten wir noch etwa 68.000 Frauen und Männer mit einem Arbeitsvertrag in unserer Stadt; 2012 waren es bereits rund 74.000. Entsprechend ist auch die Arbeitslosenquote gesunken, auf einen Wert, den wir seit bald 20 Jahre so nicht mehr hatten. Und wenn wir den heute weit höheren Anteil von berufstätigen Frauen und Älteren in Beschäftigung heranziehen, dann müssen wir wahrscheinlich 30 Jahre zurückgehen, um auf einen ähnlichen Beschäftigungsstand zu kommen.
Wir sehen auf dem Gelsenkirchener Arbeitsmarkt also eine Entwicklung, die in die richtige Richtung geht – auch wenn wir noch nicht dort angekommen sind, wo wir hinwollen. Zugleich müssen wir auch ehrlich sein: Nicht alles läuft gut. Der Zuwachs an Beschäftigung geht für meinen Geschmack – wie überall in Deutschland übrigens – zu stark auf das Konto prekärer Beschäftigung: Minijobs, befristete Stellen und unzureichend vergütete Arbeitsplätze. Mit Stundenlöhnen, die deutlich machen, dass wir Mindestlöhne, dass wir eine gesetzliche Lohn-Untergrenze brauchen.
Zudem beobachten wir auch, wie schwierig es bei aller Dynamik doch ist, jene Menschen in Arbeit zu bekommen, die schon länger keine mehr haben. Für die der Weg auf den ersten Arbeitsmarkt nach vielenJahren in Hartz IV zu weit und zu steiniggeworden ist.
Aus diesem Grund haben wir uns in den vergangenen Monaten in einem breiten Bündnis von Parteien, Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbänden und selbst von Religionsgemeinschaften an Land und Bund gewandt. Wir haben mit dem Gelsenkirchener Appell dazu aufgerufen, hier gemeinsam einen sozialen Arbeitsmarkt zu schaffen. Weil uns klar ist: Nur so können wir langzeitarbeitslose Frauen und Männer aus der Perspektivlosigkeit herausholen und ihnen eine Brücke zum Arbeitsmarkt bauen. Nur so können wir den bei uns überproportional hohen Anteil an Langzeit-Erwerbslosen senken, Menschen wieder an Beschäftigung und Qualifikation heranführen und Ihnen überhaupt wieder eine Zukunft zu ermöglichen!
Das Ruhrgebiet braucht eigene Lösungen
Über dieses breite Bündnis, über diesen starken Konsens habe ich mich sehr gefreut. Und selbst wenn man nicht zu viel erwarten sollte: Es hat mich schon gewundert, wie wenig Resonanz wir erhalten haben. Ich fand es schon bemerkenswert, dass ein Ansinnen, das in unserer Stadt von so vielen gesellschaftlichen Gruppen und Parteien geteilt und getragen wird, bei der zuständigen Ministerin auf überhaupt kein Interesse stößt. Dass einem in Berlin der Arbeitsmarkt im Ruhrgebiet mit seinen besonderen Problemlagen so fern ist, dass man eine solche Bitte einfach nicht wahrnimmt. Die Arbeitsministerin hat sich ja nicht einmal die Mühe gemacht, sich mit dem Thema zu befassen, sondern lediglich ihr Ministerium ein dünnes Antwortschreiben versenden lassen..
Vielleicht fehlt es an dieser Stelle ein wenig an Gespür für die tatsächliche Situation unserer Gesellschaft. Dafür, dass die Problemlagen im Ruhrgebiet andere sind als beispielsweise in Stuttgart und darum auch andere Antworten verlangen. Und ich werde den Verdacht nicht ganz los, dass dieses Desinteresse auch nicht ganz untypisch ist für eine Zeit, in der die Frage, wie fair es zugeht, nicht mehr so gerne diskutiert wird. Mit dem Hinweis darauf, dass die Wirtschaft seit Jahren wächst und wir im großen Stil Außenhandels-Überschüsse erzielen, wir hierzulande also scheinbar alles richtig machen.
Dabei spüren wir sehr deutlich: Nicht alle haben etwas von diesem Wachstum. Die Löhne halten schon lange nicht mehr mit dem Wirtschaftswachstum Schritt. Die Lohnquote sinkt seit Jahrzehnten, der Anteil der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer an dem von ihnen erarbeiteten Wohlstand nimmt ab. In vielen Betrieben folgt eine Sparrunde auf die nächste, die Arbeitsdichte nimmt zu, Aufgaben werden zusehends an Leiharbeiter übertragen, was nichts anders heißt, als dass den Beschäftigten Sicherheit verweigert wird – während auf der anderen Seite die Renditeerwartungen und die faktischen Renditen immer weiter steigen, in der Folge auch die Privatvermögen größer werden und die Banken inzwischen Mühe haben, diese Vermögen sinnvoll anzulegen…
Unter dieser Schieflage leidet auch die Finanzierung notwendiger öffentlicher Aufgaben. Wir müssen in Gelsenkirchen immer wieder schauen, wie wir Investitionen in Bildung und Infrastruktur überhaupt noch tätigen können. Und wir müssen ärgerlicherweise damit leben, dass hier Unternehmen ansässig sind, die zwar unsere Infrastruktur sehr bereitwillig in Anspruch nehmen, die aber ihre Gewinne vor Ort klein rechnen – um ja nicht zur Finanzierung öffentlicher Ausgaben beizutragen. Oder dass andere Unternehmen ihren Beschäftigten so wenig zahlen, dass sie nicht genug zum Leben haben. Dieser Skandal kostet allein unsere Stadt einen zweistelligen Millionenbetrag, Jahr für Jahr!
Nein, meine Damen und Herren: Auch wenn Indikatoren wie Wachstum und Beschäftigung uns derzeiteine intakte Wirtschaft suggerieren – es steht nicht alles zum Besten. Wir erleben viel zu oft, dass die Wirtschaft von der Substanz unserer Gesellschaft zehrt – statt, wie es eigentlich sein sollte, ihr zu dienen und sie zu stärken. Das Wirtschaftswachstum wird nicht lange anhalten, wenn wir nicht bereit sind, die dafür nötigen Voraussetzungen wie Bildung, öffentliche Infrastruktur und einen funktionierenden Sozialstaat zu schaffen und zu erneuern. Wenn wir diejenigen, die den Wohlstand erarbeiten, nicht ausreichend an ihm beteiligen!
Ja, es gibt noch immer viele und gute Gründe dafür, sich für die berechtigten Interessen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern einzusetzen. Und es gibt noch immer Möglichkeiten, das zu tun, auch wenn es oft so dargestellt wird, als könne man nichts tun. Das stimmt ja nicht: Man kann was tun. Indem man seine Rechte als Arbeitnehmerin oder Arbeitnehmer wahrnimmt. Indem man von seinen Rechten als Bürgerin oder Bürger Gebrauch macht und sich zu Wort meldet.
Da gibt es einiges zu tun – und dabei wünsche ich uns allen viel Beharrlichkeit und Kraft!
Glück auf!