Neujahrsempfang 2010
Rede von Oberbürgermeister Frank Baranowski - Es gilt das gesprochene Wort –
15. Januar 2010, 10:02 Uhr | Stadt Gelsenkirchen
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Herzlich willkommen zum Neujahrsempfang 2010 der Stadt Gelsenkirchen im Musiktheater im Revier!
Die Zeilen von Georg Kreisler, die Sie eben gehört haben, hätten es bei ihrer Uraufführung 1961 wohl kaum auf die Bühne des Musiktheaters geschafft. Groß war damals der Ärger über diese Schmähkritik. Seitdem hat sich vieles verändert. Neben dem Umgang mit dem Gelsenkirchen-Lied eben auch die Realität. Das haben Sie gerade sehen können. Dazu will ich gleich noch etwas sagen.
Mein besonderer Gruß gilt zuvor jedoch den Damen und Herren Abgeordneten des Bundestages, des Landtages sowie den Stadt- und Bezirksverordneten.
Herzlich willkommen auch an die Vertreterinnen und Vertreter der Kirchen, der Behörden, der Wirtschaft, der Gewerkschaften, der Wissenschaft, der Kultur und der Medien. Ebenso begrüße ich die Vorstände vieler Vereine und Verbände.
Und ganz besonders begrüße ich unseren diesjährigen Ehrengast, Frau Professor Jutta Limbach und ihren Mann.
Frau Professor Limbach ist Ihnen bekannt als ehemalige Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts. Darüber hinaus hat sie von 2002 bis 2008 als Präsidentin des Goethe-Instituts gewirkt. Zur Kulturhauptstadt 2010 hat sie auch deshalb einen engen Bezug, weil sie dem Kuratorium der Ruhr.2010 GmbH angehört. Liebe Frau Professor Limbach, herzlich willkommen in Gelsenkirchen!
Danken möchte ich der Leitung sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Musiktheaters, weil wir unseren Neujahrsempfang erneut hier ausrichten können.
Bedanken möchte ich mich aber auch bei der Sparkasse Gelsenkirchen, die mit ihrem großzügigen Engagement als Sponsor den heutigen Neujahrsempfang überhaupt ermöglicht hat. Das ist gut für unsere Stadt. Das ist gut für Gelsenkirchen.
Meine Damen und Herren,
als Georg Kreisler 1961 über Gelsenkirchen sang, war die Empörung groß. Der damalige Oberstadtdirektor schrieb einen bösen Brief an den Intendanten des Norddeutschen Rundfunks. Darin verwahrte er sich gegen derartige Sendungen und meinte, dass die Schöpfer des Chansons ihre einseitigen Erfahrungen wohl nur im 19. Jahrhundert gesammelt haben könnten. Die Presse formulierte entsprechende Schlagzeilen: „Gelsenkirchen fühlt sich diffamiert“, „Gelsenkirchen ist gekränkt“. Aus heutiger Sicht mag das ziemlich unsouverän klingen. Ich kann meine Vorgänger durchaus verstehen. Bis heute bekommen wir mit unschöner Regelmäßigkeit Anfragen von Medienvertretern, die auf der Suche nach Schmuddelecken sind. „Zeigen Sie uns doch mal die hässlichen Seiten Ihrer Stadt“, heißt es dann oder gleich: „Wo geht es denn hier zum Elend?“. Mit solch einseitigen Darstellungen werden Klischees bedient, die lange vor Georg Kreislers Lied geprägt wurden und die heute leider noch lange nicht ausgestorben sind. Wir wissen alle doch, dass Gelsenkirchen stolz sein kann auf das, was hier in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten erreicht wurde. Und jetzt ist das Ruhrgebiet auch noch Kulturhauptstadt Europas. Wir sind Kulturhauptstadt!
Darauf dürfen wir ruhig stolz sein! Nicht nur aus dem Gestern, wie es zum Beispiel in der ZDF-Show aus dem Musiktheater zum Ausdruck kam, ziehen wir Selbstbewusstsein. Wir haben auch Perspektive. Frische Ideen und Projekte für eine Metropole Ruhr jenseits der Zechentürme und Industrieschornsteine. In Gelsenkirchen findet Zukunft „Stadt“ und das schon seit einigen Jahren. Lassen Sie uns deshalb heute über diese Zukunft sprechen – über Bildung, über Stadtentwicklung, über Wandel durch Kultur und Kultur durch Wandel.
Meine Damen und Herren,
an dieser Stelle haben wir das Großvorhaben Stadterneuerung schon einmal präsentiert. Wir reagieren darauf, wenn unsere Einwohnerzahl sinkt, während das Durchschnittsalter der Bürgerinnen und Bürger steigt. Der Rückbau am Tossehof zum Beispiel. So stoppen wir Leerstände und verbessern die Wohnqualität. Solche Zukunftsinvestitionen kosten eine Menge Geld. Zusammen mit unserer GGW und mit dem Land Nordrhein-Westfalen haben wir dort fast 30 Millionen Euro investiert Wir haben so die Chance ein ganzes Quartier zu revitalisieren. Das schafft Perspektive. Das würden wir gern öfter machen.
Ein anderes Beispiel: Gelsenkirchen verfügt - anders als andere Städte im Ruhrgebiet - noch über etliche Gewerbeflächen. Alte Industrieflächen vorwiegend, die müssen wir für neue Nutzungen fit machen, herrichten und aufbereiten.
Das ist eine Chance, die wir für unsere Stadt nutzen wollen. Aber auch dafür brauchen wir finanziellen Handlungsspielraum. Denn wir müssen in Gewerbeflächen und Wohnquartiere investieren, bevor wir von ihnen einen Ertrag in Form von Gewerbesteuern sowie Ausbildungs- und Arbeitsplätzen erwarten können. Ich denke, dass dieser Zusammenhang jedem einleuchtet. Wer aufhört, in sein Unternehmen zu investieren, um Geld zu sparen, der kann genauso gut versuchen, die Uhr anzuhalten, um dadurch Zeit zu sparen. Bei aller gebotenen Sparsamkeit: kaputt sparen dürfen wir unsere Stadt nicht!
Landauf, landab ist die Finanzkrise der Kommunen ein großes Thema. Auch ohne jede freiwillige Leistung kämen wir nicht hin mit dem Geld, denn die Finanzausstattung bleibt weit hinter den Aufgaben zurück.
Sehr geehrte Damen und Herren,
bei dem Wandel unserer Stadt hat die Kultur immer eine entscheidende Rolle gespielt.
Nehmen Sie nur das Musiktheater, in dem wir heute zu Gast sind. Vor genau einem Monat haben wir hier das 50-jährige Bestehen des Hauses gefeiert. Als das MiR 1959 errichtet wurde, befand sich Gelsenkirchen im Wiederaufbau. Stolz konstatierte der damalige Oberbürgermeister, dass man Millionenbeträge in den Bau von Schulen und Sporthallen investiert habe. Also sozusagen in die Grundausstattung für das Funktionieren einer Stadt. Es war aber auch an der Zeit, etwas in die Grundausstattung der menschlichen Gesellschaft zu investieren. Denn schon vor 50 Jahren wusste man, ja vielleicht auch deutlicher als heute dass Kultur elementarer Ausdruck unseres Mensch-Seins ist. Die Einstimmigkeit des Beschlusses im Rat der Stadt ist vielleicht auch Ausdruck der Erleichterung, diesem Bedürfnis endlich nachkommen zu können, nach langer Entbehrung.
Mehr als ein bloßer Zweckbau sollte entstehen. Es wurden Künstler aus ganz Europa eingeladen, sich an der Gestaltung des Innern und des Äußeren zu beteiligen. Das Ergebnis kann sich bis heute sehen lassen. Wenn man die Namen und Arbeiten der beteiligten Künstler aufzählt, klingt das nach einem selbstständigen Museum oder einem Kunsthaus. Nehmen Sie nur die Arbeiten von Jean Tinguely im Kleinen Haus oder die Rohrplastik von Norbert Kricke. Die Betonwürfel an der Außenwand der Kassenhalle, die Robert Adams erschaffen hat, erfreuen bis heute nicht nur die Kinder, die darauf spielen. Allen voran hat aber Yves Klein mit seinen Schwammreliefs Zeichen gesetzt. Sie dominieren das Foyer des Hauses und haben dem gesamten Komplex viel Renommee verschafft. Das macht uns heute noch immer stolz, zeigt aber auch, dass das Ruhrgebiet schon damals eine hohe Anziehungskraft für Kulturschaffende besaß.
Das Kulturhauptstadtjahr erinnert uns daran, dass dies kein Luxus ist, auch wenn Kultur in der Sprache der Kommunalaufsicht als sog. freiwillige Aufgabe bezeichnet wird.
Umso bedauerlicher ist es, dass die Städte und Gemeinden in unserem Land immer weniger in diesem Bereich ausgeben können.
Den Kommunen steht mittlerweile das Wasser bis zum Hals. Wir können noch so sehr sparen: Die strukturelle Unterfinanzierung der Städte und Gemeinden lässt ein auskömmliches Wirtschaften nicht zu.
Ich nenne hier nur mal zwei Zahlen: Das vergangene Jahr 2009 haben wir mit einem Defizit von 190 Millionen Euro abgeschlossen. Zum Vergleich: Wenn wir von heute auf morgen alle Frauen und Männer nach Hause schicken würden, die in der Verwaltung für die Gelsenkirchener Bürgerinnen und Bürger im Einsatz sind, so würden wir nur knapp 125 Millionen einsparen.
Doch was wäre die Folge? Niemand würde sich mehr um die Wirtschaftsförderung kümmern. Die Bürgercenter blieben geschlossen. Genauso wie das Standesamt und die Stadtbibliothek. Kein Museum, keine Volkshochschule, keine Feuerwehr, kein Straßenverkehrsamt – auf all das müssten wir verzichten und hätten doch immer noch nicht genug gespart.
Für dieses Jahr rechnen wir mit einem Minus von rund 100 Millionen Euro. Damit droht Gelsenkirchen wieder eine Zeit ohne genehmigten Haushalt! Ich hoffe nicht, dass die 6,7 Millionen Euro, die wir in die Renovierung des Musiktheaters im Revier gesteckt haben, die vorerst letzte große Investition im Kulturbereich gewesen sein wird. Denn Kultur ist noch nie eine freiwillige Leistung gewesen. Kultur ist eine Pflichtaufgabe für Städte und Gemeinden.
Was unsere Stadt leisten kann, wenn man sie nur lässt, hat sich zuletzt bei der Teilnahme am Wettbewerb „Entente Florale“ gezeigt. Hier hat die Stadtverwaltung zusammen mit den Bürgerinnen und Bürgern eine ganze Menge bewegt. Wir haben sauber gemacht und gepflanzt, neue Projekte angestoßen und auf bewährte Netzwerke zurückgegriffen. Die Farben unserer Stadt haben im vergangenen Sommer hell geleuchtet und damit auch die Juroren überzeugt. Auch wenn unsere Bemühungen am Ende nicht vergoldet wurden, hat uns die Silbermedaille im nationalen Wettbewerb stolz und sie hat vielen Beteiligten Appetit auf Gold gemacht.
Und es tut gut zu sehen, dass unser Engagement über den Tag hinaus wirkt. Denn vieles von dem, was bei der „Entente Florale“ erdacht und gemacht wurde, wird die Menschen auch 2010 und darüber hinaus noch erfreuen.
Solch eine Auszeichnung kommt nicht von alleine. Wer daheim im Garten oder auf dem Balkon selber Blumen pflanzt, weiß das. Es braucht viel Zeit, bis alles perfekt wächst und gedeiht. Deshalb wurde mit der Silbermedaille nicht zuletzt unsere jahrzehntelange Beharrlichkeit ausgezeichnet, mit der wir den Standard unserer Grünanlagen und Parks auch bei knappen Kassen hochgehalten haben. Doch auch das steht nun zur Disposition. Denn pflegeleichter als aufwändige Blumenbeete und damit kostengünstiger ist nackter Rasen, den man nur noch zwei Mal im Jahr mäht. In Kreuzungsbereichen zur Erhaltung freier Sicht einfach Beton.
Sie mögen das jetzt zu Recht lachhaft finden, doch sind genau das die Spar-Vorschläge, die man uns macht!
Meine Damen und Herren,
wir sind Kulturhauptstadt. Eine imposante Eröffnungsfeier hat den Standpunkt für dieses Jahr 2010 markiert. Und die Begeisterung der mehr als 200.000 Besucher am vergangenen Wochenende auf Zollverein trägt sich jetzt in die Städte der Region. An unserer Local-Heroes-Woche beteiligen sich zahlreiche Gruppen und Vereine. Die Kirchen in unserer Stadt öffnen ihre Türen und die Schulen bringen sich mit ein. Der Bund Gelsenkirchener Künstler und der Kunstverein Gelsenkirchen mit ihren Mitgliedern sind ebenso mit dabei wie das Consol-Theater, das Schloss Horst, der Wissenschaftspark und unser Kunstmuseum. Die A 40 wird zum Stillleben, unsere innerstädtische Demarkationslinie wird zum Kulturkanal. Das Musiktheater fehlt ebenso wenig wie die Europäische Märchengesellschaft. Die Stadtbibliothek lädt ein zu Lesungen und die Neue Philharmonie Westfalen experimentiert mit Werken von Hans Werner Henze.
Im Rahmen unserer Städtepartnerschaften beteiligen wir uns an dem TWINS-Projekt: die Ruhr Chansonnale, das Theaterfestival der Jugend, das Projekt „3 Wishes“ und die Färbergärten kommen dabei zu Ehren. In der VELTINS-Arena wird beim „Day of Song“ der größte Chor der Welt erklingen. Riesig wird auch die Erweiterung des Nordsternturms mit Videokunst und einer Besucherplattform in luftiger Höhe. Dort wird deutlich werden: Wer früher das Ruhrgebiet verstehen wollte, der musste in die Tiefe. Wer dagegen das Revier heute verstehen will, der muss nach oben. Der muss sich von oben anschauen, wie viel sich in unserer Region schon gewandelt hat.
Eine vollständige Aufzählung, würde Sie und mich überstrapazieren. Eine sehr gute Übersicht über alle Gelsenkirchener Projekte finden Sie im gerade erst erschienenen Programmbuch. Gerne können Sie sich heute ein druckfrisches Exemplar mitnehmen. Es liegt kostenlos am Infostand im Foyer für Sie bereit. Wir haben allen Grund, uns auf das, was in den kommenden zwölf Monaten in Gelsenkirchen passiert, zu freuen.
Meine Damen und Herren,
die geballte Kreativität der Kulturhauptstadt macht deutlich, dass wir nicht alles dem Rotstift zum Opfer fallen lassen dürfen. Wir müssen Raum für Ideen schaffen.
Bei den kommunalen Investitionen darf es jetzt keine Vollbremsung geben. Ganz im Gegenteil! Alle Regierungen sollten wissen: Stabile Kommunalfinanzen sind ein hochwirksames Konjunkturpaket.
Wir werden angesichts der schlechten Haushaltslage jetzt nicht den Kopf in den Sand stecken. Wir wollen der Abwärtsspirale widerstehen. Wir werden nicht aufhören, die Zukunft zu gestalten, nur weil die Kassenlage nicht stimmt.
Eingangs habe ich den Bereich Stadtentwicklung genannt, in den wir auch weiter investieren wollen. Nein, nicht nur wollen, sondern auch müssen!
Lassen Sie mich zwei weitere Beispiele nennen: So spielen Bildung und Betreuung für uns auch weiterhin eine ganz wichtige Rolle. Wandel durch Kultur heißt natürlich auch Wandel durch Bildung.
Georg Kreisler hat das in seinem Lied richtig beschrieben: „Die Bildung kann man gar nicht übertreiben.“ Denn die Zukunft unserer Stadt geht jeden Tag durch die Türen unserer Kindergärten und Schulen. Wir versuchen deshalb, diese Türen ganz weit aufzustoßen. Hierfür haben wir in den vergangenen Monaten und Jahren eine ganze Menge Energie und auch Geld aufgewendet und werden dies auch in den nächsten Jahren tun: In den Ausbau der Betreuung Unter-Dreijähriger, in die flächendeckende Einführung von Ganztagsschulen und die Ausweitung dieses Angebots auch auf die weiterführenden Schulen. Wir haben Familienbesuche bei Eltern neu geborener Kinder eingeführt und die kommunale Finanzierung von Alphabetisierungskursen fortgeführt. Wir tun alles, damit unsere Kinder gut betreut und ausgebildet werden.
Wissen Sie, es ist schon ein merkwürdiger Spagat, wenn wir heute am Beginn der Kulturhauptstadt stehen. Vor uns liegen zwölf kulturell spannende Monate. Doch was wird danach sein? Wird man Gelsenkirchen dann immer noch gestatten, in seine Kultur zu investieren?
Ich sage: Nach 2010 darf mit Kultur nicht Schluss sein! Die Gefahr ist, dass das Programm der Kulturhauptstadt vieles von dem verdeckt, was derzeit ohnehin schon im Argen liegt. Umso deutlicher könnten die Schwachpunkte im kommenden Jahr zutage treten.
Dazu darf es nicht kommen! Denn Kultur war und ist und wird immer wichtig sein für Gelsenkirchen. Im Kulturhauptstadtjahr genauso wie darüber hinaus.
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
die Zukunft gehört den Mutigen. Deshalb lassen Sie uns gemeinsam voller Mut und Zuversicht auch auf das neue Jahr 2010 blicken. Es wird ein Jahr voller Herausforderungen werden und dennoch bin ich mir sicher, dass wir diese gemeinsam meistern können, wenn wir große Geschlossenheit und Gemeinsamkeit als Stadtgesellschaft leben.
Wenn uns diese Gemeinsamkeit gelingt, dann hätte Georg Kreisler Recht, wenn er sagt: Das gibt’s eben nur bei uns in Gelsenkirchen!
Oder, um es moderner und mit Herbert Grönemeyers Hymne an das Ruhrgebiet zu sagen: „So weit, so pur: Komm zur Ruhr.“
In diesem Sinne Ihnen allen einen amüsanten Abend sowie unserer Stadt Gelsenkirchen ein herzliches Glück auf!