12. März 2017, 20:00 Uhr | Stadt Gelsenkirchen
Rede von Oberbürgermeister Frank Baranowski
- Es gilt das gesprochene Wort! -
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
sehr geehrter Herr Montanus,
haben Sie herzlichen Dank für Ihre Einladung, in meinem Stadtteil Horst, in der Paul-Gerhardt-Kirche, einige Worte zum Thema „Reformation und politische Existenz“ sprechen zu dürfen!
Das ist ja – da will ich nicht drum herum reden – eine besondere Situation für mich. Als Oberbürgermeister bekomme ich nicht wenige Aufforderungen, bei dieser oder jener Veranstaltung mitzuwirken, eine Schirmherrschaft zu übernehmen, ein Grußwort zu sprechen. Bei den wenigsten muss ich lange nachdenken, oft stellt sich bloß die Frage: Passt das noch in meinen Terminkalender?
Die Einladung, hier und heute zu sprechen, die passte. Auch über das „Möchte ich?“ musste ich nicht lange grübeln. Dennoch will ich zugeben: Diese Situation ist schon eine besondere. In einer Kirche zu sprechen, zudem noch zu einem genuin religiösen Thema - das ist kein alltäglicher Rahmen für mich. Es ist einer, der Respekt einfordert. Und darum bin ich ganz froh, dass Sie hier keine echte Predigt von mir erwarten, so reizvoll das vielleicht auch als Gedankenspiel wäre…
Als Politiker schaut man ja stets mit einigem Respekt auf diese Kultur der öffentlichen Rede, die die Evangelische Kirche pflegt. Nicht wenige Politikerinnen und Politiker schöpfen als Redner ein Berufsleben lang aus den Erfahrungen, die sie in ihrer Kirchenpraxis gesammelt haben. Auch dieser Gedanke macht diese Einladung zu einer ehrenvollen Aufgabe für mich. Umso mehr empfinde ich diese Aufgabe als eine Ehre, weil ich zwar Mitglied der Evangelischen Kirche bin, aber doch – wie ich mit den Worten Max Webers bekennen muss – in Glaubensfragen ein eher unmusikalischer Mensch. Ich spreche zu Ihnen in einer Kirche, nicht aus der Mitte der Kirche heraus.
Aber diese Position ist ja – wenn ich Sie richtig verstehe – gerade einer der Gründe, warum Sie mich eingeladen haben. Es soll eben nicht um eine Binnensicht gehen, jetzt, zu Beginn dieses besonderen Jahres, in dem wir alle – ob wir nun in der Mitte dieser Kirche stehen oder nicht – auf die Evangelische Kirche schauen. Auf eine Kirche, die ein großartiges Jubiläum feiert, die auf eine enorme Geschichte zurückblickt, auf ein halbes Jahrtausend, und die sich mit vollem Recht mit den großen und grundlegenden Fragen beschäftigt, für die sonst nicht immer Zeit ist: Warum gibt es diese Kirche, was macht sie heute aus und was wird sie künftig ausmachen?
Zu diesem besonderen Zeitpunkt blicke ich mit Ihnen auf die Anfänge dieser Institution, staune mit Ihnen über diese wuchtige Gründerfigur und ihre epochale Wirkung. Und selbst wenn ich für meinen Wortbeitrag Glaubensfragen etwas ausklammern möchte, so komme ich nicht umhin, mindestens zwei herausragende Beiträge der Reformation für unser Gemeinwesen zu würdigen – und natürlich muss dazu auch Luthers Bibelübersetzung gehören. Die hat ja, wie wir heute wissen – in Verbindung mit dem aufkommenden Buchdruck – erst die Voraussetzungen geschaffen für die sich ausbreitende Schrift- und Lesekultur in unserem Land, für die Entwicklung einer reichen, präzisen, verbindenden deutschen Sprache. Und von der zehren wir noch heute, von der lebt unser Gemeinwesen auch im Jahr 2017.
Wir leben mit und auch von dieser Sprache, von einer Sprache, die nicht nur von einer Elite, sondern von allen Schichten gesprochen und verstanden wird; in der wir uns verständigen können, in der wir uns heute unsere gegenseitige Anerkennung versichern und auch im Diskurs die Probleme des Gemeinwesens lösen können – genau das ist die Basis der Demokratie. Das ist die Basis unserer Demokratie. Und die verdanken wir zu einem nicht geringen Teil der Reformation.
Die Übersetzung der Bibel ins Deutsche – das war ja nicht zuerst eine linguistische Tat, eine literarische – das war vor allem eine soziale! Weil es eben nicht nur die Übertragung von einer beliebigen Sprache in eine andere war. Sondern eben in die „Sprache des Volkes“. Ganz wörtlich übrigens. Da bin ich dann jetzt mal nicht Oberbürgermeister, sondern der alte Deutschlehrer, und erinnere an die ursprüngliche Wortbedeutung: „Deutsch“ – althochdeutsch „diutisc“ – bedeutet ja etymologisch nichts anderes als „die Sprache des Volkes“. Und diese Tat, diese Übersetzung war damit nichts anderes ein erster, ein gewaltiger Schritt nicht nur auf dem Weg zur Demokratisierung des Glaubens, sondern – was noch viel wichtiger ist! – zur Demokratisierung des Wissens.
Damit zusammen hängt das für mich ebenso bedeutende Anliegen der Reformation, dass jeder Mensch sich selbst sein eigenes Bild vom Glauben machen muss. Dass jeder selbst seinen Weg zur Religion finden und gestalten muss, ohne sich durch eine hierarchische Institution leiten oder gar bevormunden zu lassen. Diese These, auch wenn sie sich auf die Religion bezog, war ein starker, ein vehementer Aufruf zur Mündigkeit, und das über 200 Jahre vor Immanuel Kant. Darin steckt die großartige Aussage, die wir nicht allein Luther verdanken, die er aber sehr stark vertreten hat, und die immer wieder in unterschiedlichem Gewand wiederholt werden soll, weil sie nie ihr Gehalt verlieren wird: Wir sind gleich. Kein Mensch auf dieser Welt kann und darf behaupten, mehr wert zu sein als ein anderer!
Welche Kraft in seinen Äußerungen steckte, das spüren wir noch heute. Auch 500 Jahre danach merken wir: Da steckt ein Mut und eine Kraft drin, ein Zauber eines Aufbruchs, der uns heute – in einer manchmal doch eher verzagten Zeit – beeindrucken muss. Der uns aber auch inspirieren darf.
Dieser Rückblick, dieser Impuls, der soll und darf ja gerade der Evangelischen Kirche in diesen Jahren gut tun. Denn ich weiß ja: Auch der Evangelischen Kirche geht es gegenwärtig nicht viel anders als anderen Organisationen in unserem Land, ob es nun Parteien oder Gewerkschaften sind. Da ist seit etlichen Jahren ein Rückgang der Mitglieder zu verzeichnen, die finanzielle Ausstattung leidet, das macht sich bemerkbar. Man ist – häufiger als einem lieb ist – gezwungen, defensiv zu denken und auch zu handeln. Wer Verantwortung im Kirchenkreis trägt, dem geht es ähnlich, wie es uns Stadtpolitiker im Ruhrgebiet über viele Jahre gegangen ist: Man muss einen gewissen Rückbau organisieren, während sich viele an andere, vermeintlich bessere Zeiten erinnern – obwohl es gar nicht sicher ist, dass diese Zeiten wirklich besser waren.
Das kann schon eine Herausforderung sein. Dem muss man sich stellen, ohne sich aufzureiben, ohne sich verschleißen zu lassen. Ohne zu vergessen, dass der Rückbau nie das Ganze ist, auch und gerade in einer Kirche nicht. Das Wesentliche ist etwas Anderes. Es braucht Mut und Kraft, das nicht aus den Augen zu verlieren. Darum kommt jetzt die Erinnerung an die Reformation, an den Mut des Anfangens, eigentlich gerade recht.
Meine Damen und Herren,
wenn ich nun heute über „Reformation und Politische Existenz“ spreche, dann kann ich nicht darüber hinweggehen, dass die große Gründergestalt der Evangelischen Kirche eine ganz und gar ambivalente Figur war – gerade und vor allem dort, wo es um Politik geht. Ja, in der Reformation steckt ein enormes emanzipatorisches Potenzial, ganz unbestritten. Luther hat dieses Potenzial zunächst offengelegt, er hat es aber dann auch rasch wieder zugedeckt. Nachdem er Schutz bei den protestantischen Fürsten fand, hat er sich gegen die Bauernbefreiung gestellt, hat furchtbare Dinge gesagt und den Weg zu einer Staatskirche bereitet, die leider sehr lange mit dem emanzipatorischen Potenzial der Reformation wenig anfangen konnte.
Die Rückschau hilft uns, etwas klarer über unsere Gegenwart zu werden. Darum will ich auch das nicht übergehen: Mit der Reformation brach eine lange Zeit von Religionskriegen an. Und dafür brauchte es nicht – wie es uns heute manche einreden wollen – eine ganz andere Religion, eine ganz anderen Kultur, den Islam. Nein, es war nicht die Auseinandersetzung mit einer anderen Religion, die den Konflikt aufrechterhielt, das ging innerhalb einer Religion.
Es lange gebraucht, um diese Gewalt einzuhegen, und es hat noch länger gebraucht, die Distanz zwischen den Konfessionen und Menschen zu mindern – und schließlich einen gemeinsamen, interkonfessionellen Grund zu schaffen, ein gutes Miteinander. Wie wissen heute sehr genau, wie schwer errungen dieser Frieden war. Wie positiv der Weg seit langem verlaufen ist. Und wie sehr die Evangelische Kirche eine Einrichtung und eine Bewegung geworden ist, die auf Seiten der Menschen steht. Die heute die emanzipatorischen Potenziale der Reformation weiterträgt.
Meine Damen und Herren,
ich denke und hoffe, es ist deutlich geworden – vielleicht gerade deshalb, weil ich die selbst die schwierigen und schmerzlichen Themen nicht ausgespart habe, die mit dem Thema „Reformation“ verbunden sind: Ich blicke durchaus mit Sympathie auf die Evangelische Kirche. Diese Kirche macht ein Angebot an Sinn und ernsthafter Sinnsuche, das auch unsere Zeit braucht. Sie führt Menschen zusammen und bringt sie dazu, einander zuzuhören, sich umeinander zu kümmern, füreinander einzusetzen. Sie beteiligt sich an entscheidender Stelle am interkulturellen Dialog. All das macht sie zu einer unverzichtbaren Institution in unserer Stadt – und nicht nur hier. Es macht sie zu einer Institution, die gebraucht wird. Die gerade in diesen bewegten Wochen, Monaten und Jahren gebraucht wird.
Denn es ist ja so, wir alle spüren das: Es steht im Moment etwas auf dem Spiel. Es gibt derzeit tatsächlich wieder viele – viel zu viele! – die den Frieden der Religionen aufkündigen wollen. Menschen, denen ich beim besten Willen nicht abnehme, dass es ihnen dabei in irgendeiner Form um Religion geht!
Es gibt zudem in unserer Gegenwart wieder eine Tendenz, unsere Sprache nicht als Instrument der Verständigung zu verstehen und einzusetzen, sondern als Instrument, um das Gegenteil zu tun, um Angst und Unsicherheit zu schüren, um Menschen gegeneinander aufzubringen. Und all das sind keine Randerscheinungen mehr, die man irgendwie unangenehm findet, bei denen man aber auch denkt, das muss ich nicht überbewerten. Nein, spätestens seit den US-Präsidentschaftswahlen wissen wir alle, wie ernst es ist.
Wir leben in einer Zeit, in der sich viele grundsätzliche Fragen neu stellen. Wir stellen fest, dass es – wieder – stark auf uns ankommt. Auf jeden einzelnen von uns – und darauf, dass die Menschen zusammenhalten. Es liegt an unserem Handeln und Verhalten, wie sich diese Gesellschaft entwickelt, ob sie die Gefährdungen dieser Tage übersteht, ob wir auch künftig in einem guten, anständigen, solidarischen Miteinander leben. Es kommt auf ihren Banknachbar zur Linken wie zur Rechten an, aber auch und ganz besonders auf Sie und auf mich. Es geht darum, dass wir uns zu Wort melden, wenn es nötig ist. Und es geht darum, dass wir im Alltag Sorge für dieses gute Miteinander tragen.
Das sind – zugegeben – große Aufgaben. Aber es ist auch genau das, was die Evangelische Kirche ausmacht, was sie kann, worauf sie sich versteht und was sie vielfach bewiesen hat. In ihrer Kultur der öffentlichen Rede, in ihrer Gemeindearbeit. Sie erreicht Menschen. Und darum ist es vielleicht am Ende sogar passend und gut, dass die Evangelische Kirche gerade in diesem Jahr dieses Jubiläum feiern kann und den Impuls des Reformationsjahres aufnimmt und weiterträgt. Ich jedenfalls wünsche der Kirche und Ihnen allen hier in der Paul-Gerhardt-Kirche in Horst ein gutes, ein erkenntnisreiches Reformationsjahr – ein Jahr, das Sie und Ihre Gemeinde bereichert, voranbringt und schließlich uns alle stärker macht!
Ihnen allen ein herzliches Glück auf!