21. Oktober 2011, 12:25 Uhr | Stadt Gelsenkirchen
Manchmal haben Verträge große und lange Auswirkungen, die zum Zeitpunkt ihres Abschlusses noch unabsehbar waren. Das vor 50 Jahren unterzeichnete Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei etwa - dieses Abkommen hat das Leben von Millionen von Menschen in neue Bahnen gelenkt. Und es hat damit auch unsere Stadt erheblich verändert.
Dabei hatten die beiden Staaten zunächst lediglich vereinbart, dass türkische Männer vorübergehend in Deutschland arbeiten können, aber nach zwei Jahren spätestens wieder in ihre Heimat zurückkehren sollen. Doch dann etablierten sich die vermeintlichen Gastarbeiter mit Fleiß und Beharrlichkeit in der deutschen Arbeitswelt. Die Arbeitgeber wollten sie nicht so rasch wieder gehen lassen, die angeworbenen Türken und ihre Familien lebten sich ein, viele wurden gerade im Ruhrgebiet heimisch.
Aus Gelsenkirchen jedenfalls sind sie, ihre Kinder und Enkel schon lange nicht mehr wegzudenken: Mindestens jede zehnte Gelsenkirchenerin und jeder zehnte Gelsenkirchener hat heute Vorfahren aus der Türkei. Und der Anteil aller früherer Gastarbeiter und ihrer Familien an der Stadtbevölkerung ist noch höher, weil es ähnliche Abkommen auch mit Italien, Spanien und Griechenland gab, mit Jugoslawien, Marokko, Tunesien und Portugal.
Vor 50 Jahren wurde das Anwerbeabkommen mit der Türkei unterzeichnet
Die Zugewanderten wurden, das müssen wir im Rückblick leider sagen, lange so behandelt, wie es in den Abkommen vorgesehen war: als Arbeitskräfte, die bald wieder fort sind, um die man sich darum nicht groß kümmern muss. Max Frisch hat das Versäumnis mit den bekannt gewordenen Worten benannt: „Wir riefen Gastarbeiter und es kamen Menschen." Die Menschen lernten sich an der Werkbank oder im Fußballverein kennen, Sportvereine und Gewerkschaften leisteten wichtige Beiträge zur Integration. Doch dies waren eben nur punktuelle Hilfen.
Die Einsicht, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, dass unser Land den neuen Einwohnern die gleichen Bildungs- und Teilhabechancen ermöglichen muss wie allen anderen auch - diese Einsicht reifte erst mit den Jahren. Im Ruhrgebiet und in Gelsenkirchen haben wir das vielleicht etwas schneller begriffen als andernorts, schließlich wissen bei uns die meisten aus der eigenen Familie, was es heißt, einen Migrationshintergrund zu haben - ohne die Arbeiter aus Schlesien und Ostpreußen wären ja aus den kleinen Siedlungen nicht so rasch große Industriestädte geworden.
Zu oft bestimmt noch die Herkunft über die Lebenschancen von Menschen
Heute ist Integration eine politische Kernaufgabe, und wir in Gelsenkirchen setzen uns nach Kräften dafür ein. Zahlreiche türkischstämmige Gelsenkircherinnen und Gelsenkirchener haben eine gute Ausbildung und einen guten Beruf, können sich im Deutschen ebenso mühelos und präzise ausdrücken wie im Türkischen, nutzen ihr kulturelles Kapital. Aber das gilt leider noch nicht für alle Kinder und Enkel der Gastarbeiter. Immer noch bestimmt die soziale und geografische Herkunft über die Lebens- und vor allem Bildungschancen von jungen Menschen. Das ist ein Skandal, mit dem wir uns nicht abfinden dürfen! Wir arbeiten daran, die Nachteile auch von Migrantenkindern und -enkeln im Bildungssystem zu beseitigen.
Dafür unternehmen wir vieles, von der Gelsenkirchener Elternschule und der frühen Sprachförderung in Kitas und Schulen bis hin zu unzähligen anderen kleinen wie großen Initiativen. Damit Benachteiligungen nicht von einer Generation an die nächste weitergegeben werden - und damit wir alle die Vielfalt unserer Stadt als Stärke erfahren.
Glück auf!
Ihr
Frank Baranowski