Geschichte vor der Haustür
25 Jahre Dokumentationsstätte Gelsenkirchen im Nationalsozialismus
11. April 2019, 08:00 Uhr | Stadt Gelsenkirchen
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Die Dokumentationsstätte Gelsenkirchen im Nationalsozialismus in der Cranger Straße 323.
Bildrechte: Caroline Seidel
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Dr. Daniel Schmidt und Birgit Klein vom Institut für Stadtgeschichte in der Dokumentationsstätte Gelsenkirchen im Nationalsozilismus.
Bildrechte: Caroline Seidel
Wer sich in Gelsenkirchen mit der Zeit des Nationalsozialismus auseinandersetzen will, für den ist die Cranger Straße 323 erste Anlaufstelle. In dem Gebäude, das früher einmal Sitz einer Ortsgruppe der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) war, zeigt das Institut für Stadtgeschichte (ISG) seit 1994 eine Dauerausstellung über die Geschichte des Nationalsozialismus in Gelsenkirchen. In diesem Jahr feiert die Dokumentationsstätte ihr 25-jähriges Jubiläum. Dr. Daniel Schmidt und Birgit Klein vom ISG geben einen Einblick in die Ausstellung.
Wenn man eine Ausstellung wie diese zusammenstellt, wie fängt man da an?
Dr. Daniel Schmidt: Im Grunde geht man das ganz praktisch an: Was haben wir, was wissen wir? Was ist wichtig, wo wollen wir Akzente setzen? Wir haben hier zum Beispiel einen besonderen Ort, einen Täterort. Und der Forschungsstand spielt eine Rolle. Als das ISG Ende der 1980er Jahre gegründet wurde und der Auftrag für diese Ausstellung vom Rat kam, hatte die Aufarbeitung der NS-Geschichte neue Aktualität gewonnen. Viele Städte haben sich zu dieser Zeit des Themas angenommen, haben Erinnerungsorte geschaffen. Inhaltlich wurden überall vor allem die Themen Widerstand und Verfolgung in den Fokus genommen. Diese Thematik hat in der ersten Ausstellung eine große Rolle gespielt.
Sie haben 2015 die Ausstellung überabeitet, was wurde verändert?
Dr. Daniel Schmidt: Wir haben vor allem neuen Forschungserkenntnissen, die wir beim ISG gewonnen haben, Rechnung getragen. Etwa den Forschungen zur Verfolgung der jüdischen Bevölkerung, der Verfolgung der Sinti und Roma oder der Rolle der Polizei. Das haben wir jetzt alles einarbeiten können. Wir haben auch neue Themen aufgenommen, die für Gelsenkirchen bisher kaum erforscht waren, wie etwa den nationalsozialistischen Krankenmord. Darüber hinaus haben wir natürlich auch auf die geänderten Seh- und Lesegewohnheiten geachtet und die Ausstellung modernisiert. Wir haben zum Beispiel die alten Röhrenfernseher mit den langen Filmen rausgenommen. Stattdessen gibt es jetzt einen Rundgang durch die Räume mit digitalen, aber auch analogen Stationen, an denen die Besucherinnen und Besucher selbst aktiv werden können.
Der Rundgang ist chronologisch angelegt, beginnt 1914 und endet in der Nachkriegszeit, was steht thematisch im Mittelpunkt?
Dr. Daniel Schmidt: Das Thema Volksgemeinschaft steht jetzt in der Ausstellung im Vordergrund. Wir stellen die Frage, wie es den Nationalsozialisten gelingen konnte, einen Großteil der Deutschen auf ihre Seite zu ziehen. Schließlich gab es bis weit in den Krieg hinein eine hohe Zustimmung für die NS-Diktatur. Das ist nicht zuletzt zurückzuführen auf die mit dem Begriff „Volksgemeinschaft“ verbundenen Versprechen: auf eine bessere Zukunft, auf sozialen Aufstieg, neue Konsummöglichkeiten - zumindest für die, die dazu gehören durften. Denn Inklusion und Exklusion, Einbindung und Ausgrenzung gehören untrennbar zusammen. Sie sind konstitutiv für die Volksgemeinschaft. Letztlich ist es dieser rote Faden, der sich durch die Ausstellung zieht. Besonders interessant ist die Frage bei der speziellen Ausgangssituation in Gelsenkirchen, die eigentlich ungewöhnlich war. 1932 lagen die Wahlergebnisse der NSDAP in Gelsenkirchen 10 bis 15 Prozent unter dem Reichsdurchschnitt , dennoch haben sie es nach 1933 schnell geschafft, die Stadt unter ihre Kontrolle zu bringen. Dadurch, dass man die Menschen manipuliert hat, aber auch mit brutaler Gewalt. Verführung und Gewalt - das sind die beiden Seiten des Nationalsozialismus.
Ist das eher eine Ausstellung, die man sich alleine anschaut oder mit einer Führung?
Birgit Klein: Da jede Station in jedem Raum mit vielen Informationen gefüllt ist und das Thema komplex ist, erleichtert eine Führung den Zugang. Man kann sich die Ausstellung aber natürlich auch alleine ansehen.
Wie viele Menschen besuchen denn die Ausstellung?
Birgit Klein: Wir hatten in den ersten zwei Monaten des Jahres fast 20 Schulklassen da. Das hängt immer auch ein bisschen davon ab, wann das Thema in den Schulen behandelt wird. Vor den Sommerferien ist meist ein wenig mehr Konjunktur. Besucht werden wir von Klassen der Sekundarstufe 1 und 2 aus allen Schulformen, aber auch von Jugendeinrichtungen und Vereinen. Die Schülerinnen und Schüler kommen nicht nicht nur im Rahmen ihres Geschichtsunterrichts, sondern auch aus den Fächern Deutsch, Sozialkunde oder Biologie. Uns besuchen aber auch Studierende. Mit der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung haben wir zum Beispiel eine Kooperation, bei der die angehenden Polizistinnen und Polizisten die Ausstellung kennenlernen.
Dr. Daniel Schmidt: Bemerkenswert ist, dass wir nicht nur Gelsenkirchener Schulen begrüßen können. Auch aus den Nachbarstädten wie Herne, Herten oder Gladbeck besuchen uns Schulklassen. Denn im nördlichen Ruhrgebiet gibt es wenig vergleichbare Angebote. Andere Erinnerungsorte wie Essen oder Dortmund haben außerdem einen anderen thematischen Fokus. Der lokalgeschichtliche Ansatz mit der Frage, wie funktioniert die Volksgemeinschaft, ist attraktiv.
Was bieten Sie den Besucherinnen und Besuchern bei den Führungen an?
Birgit Klein: Wir sprechen die Pädagogen immer an, ob sie einen Schwerpunkt wünschen, es gibt aber auch Vorschläge von uns. Das Angebot hängt immer auch von der Zeit ab, die die Gruppen mitbringen. Haben wir einen Schwerpunkt gesetzt, gibt es verschiedene Angebote und Methoden, die wir bieten können. Im Erdgeschoss haben wir einen Vortrags- und Schulungsraum sowie pädagogisches Material, um den Rundgang vor- und nachzubereiten. Es gibt auch Projektarbeiten, die über einen längeren Zeitraum laufen. Auch Fahrten zu Gedenkstätten wie Auschwitz Buchenwald können bei uns vor- und nachbereitet werden.
Dr. Daniel Schmidt: Der Besuch der großen KZ-Gedenkstätten ist wichtig, man sollte aber beachten, dass es auch vor Ort, in der eigenen Stadt, Informationsmöglichkeiten gibt. Bei uns kann man einen solchen Besuch gut vorbereiten und dabei lernen, was Gelsenkirchen beispielsweise mit Auschwitz zu tun hat. Wie kamen die Menschen dahin, welche Menschen kamen dahin, was passierte mit ihnen? Das wird zurzeit noch zurückhaltend genutzt, da würden wir uns über eine stärkere Nachfrage freuen.
Was kostet der Besuch der Ausstellung bzw. eine Führung?
Birgit Klein: Unser Angebot -auch die Führungen- ist kostenlos, sowohl für Gruppen wie auch Einzelpersonen. Und auch für unsere Abendveranstaltungen, die wir für interessierte Bürgerinnen und Bürger regelmäßig anbieten, nehmen wir keinen Eintritt.
Dr. Daniel Schmidt: Wir verstehen uns als außerschulischer Lernort, der es ermöglicht, sich dem Thema noch mal ganz anders zu nähern.. Das ist besonders wichtig, weil die Distanz zur Zeit des Nationalsozialismus zunimmt. Persönliche bzw. familiäre Bezüge verschwinden, es wird in den Familien nichts mehr erzählt, es gibt keine Großeltern mehr. Außerdem gibt es in Gelsenkirchen viele Menschen, deren Vorfahren während der NS-Zeit gar nicht hier gelebt haben. Für beide Gruppen ist es besonders wichtig, so ein Angebot zu haben. Auch wenn es nichts mit einem unmittelbar selbst zu tun hat, hat es ja mit der eigenen Heimatstadt zu tun. Und über die Auseinandersetzung mit der lokalen Geschichte erhalten die Besucherinnen und Besucher grundlegende Informationen über die Geschichte des „Dritten Reiches“.
Die letzte Überarbeitung ist vier Jahre her, beim Rundgang schauen Sie beide sich aber auch immer wieder Dinge an, sprechen kurz über weitere Ideen. Arbeiten Sie schon an einer neuen Ausstellung?
Dr. Daniel Schmidt: Seit 2015 haben wir immer weitergearbeitet. Zuletzt haben wir z. B. einen Volksempfänger zu einer Hörstation mit Tondokumenten aus dem Deutschen Rundfunkarchiv umgebaut Via Boxen können wir die Töne auch im ganzen Raum hörbar machen. Den Raum zum Thema Krieg haben wir kürzlich um das Thema Edelweißpiraten erweitert. Hier geht es um Jungen und Mädchen, die die Einrichtungen des Nationalsozialismus durchlaufen haben, aber dennoch keine Lust darauf hatten, Teil der „Volksgemeinschaft“ zu sein. Wir haben hier u,a. ‚spricht‘, es spielt Tondokumente ab. Die Menschen erzählen selbst von ihrer Geschichte, ihrer Lebensweise. Manche Zeitzeugenerinnerungen lassen wir auch von Schauspielerinnen und Schauspielern nachsprechen, weil die Originaldokumente keine gute Qualität mehr haben. Oder das Lied ‚Hohe Tannen weisen die Sterne‘. Da hat sich eine Jugendgruppe der Falken in einem Projekt mit den Edelweißpiraten beschäftigt und dieses Lied gesungen, die Aufnahme haben wir in unsere Ausstellung übernommen. Wir sehen zu, dass wir neue Forschungserkenntnisse rasch integrieren. Und wir schauen, was es an technischen Innovationen gibt. Vor Ende der 2020er Jahre werden wir aber eher nicht an eine komplette Überarbeitung der Ausstellung gehen.
Klapptafeln, sprechende Bilder - in jedem Raum gibt es Besonderheiten zum Anfassen und Erleben. Wie kommen Sie auf die Ideen?
Birgit Klein: Bei der Zusammenstellung trägt jeder im Team Ideen bei…
Dr. Daniel Schmidt: …und zusammen mit einer Gestalterin schauen wir dann, wie diese Ideen umgesetzt werden können. Wie zum Beispiel die Porträts, mit denen wir ganz unterschiedliche Lebenswege von Menschen aus Gelsenkirchen präsentieren: Täterund Opfer ebenso wie mehr oder weniger passive Zeitgenossen. Die Porträts haben wir mit Folie auf unsere Fenster aufgebracht, die Biografien kann man sich dann im Tablet ansehen.
Woher stammen die Dokumente, die man in der Ausstellung sieht?
Dr. Daniel Schmidt: Viele der Stücke sind in unserem Archiv zu finden, wie zum Beispiel ein Protokoll zur Bücherverbrennung. Gut geeignet für die Ausstellung sind Dinge, mit denen man etwas zeigen kann. Etwa Dokumente, die gut lesbar sind und bei denen man direkt sieht, dass sie authentisch sind. Es ist ganz unterschiedlich, wie die Dinge in die Ausstellung kommen. Mal hat man das Dokument und baut es ein, manchmal sucht man für einen bestimmten Aspekt nach einem Ausstellungsstück. Manchmal haben wir aber auch kein eigenes Material. Fotos von Deportationen aus Gelsenkirchen gibt es zum Beispiel nicht, da nutzen wir dann andere Quellen.
Birgit Klein: Wir recherchieren deutschlandweit in Archiven und stehen u.a. in engem Kontakt zum Bundesarchiv. Grundsätzlich muss man sagen, dass es gut ist, dass die Ausstellung und die Dokumentationsstätte eng mit dem Institut, mit dem wissenschaftlichen Bereich, verbunden sind. So steht nichts für sich allein.
Am 8. Mai feiert das ISG 25 Jahre Dokustätte und Ausstellung. Was steht auf dem Programm?
Birgit Klein: Wir bieten einen Tag der offenen Tür an. Abends gibt es eine kleine Festveranstaltung mit geladenen Gästen.
Dokumentationsstätte Gelsenkirchen im Nationalsozialismus
Öffnungszeiten: Dienstag bis Freitag 10 bis 17 Uhr, an Feiertagen und in den Ferien geschlossen. Eintritt und Führungen sind kostenlos. Infos und Kontakt: www.institut-fuer-stadtgeschichte.de. Tel.: 0209 169 -8551 u. 0209 169 -8557, E-Mail: isg@gelsenkirchen.de
Neben der Ausstellung bietet die Dokumentationsstätte auch zahlreiche Vorträge und Veranstaltungen an. Der Katalog zur Ausstellung ist im Buchhandel und bei der Stadt- und Touristinfo im Hans-Sachs-Haus erhältlich.