"Am Ende bekommen wir die Gesellschaft, die wir verdienen"
Neujahrsempfang der Stadt 2017
20. Januar 2017, 21:15 Uhr | Stadt Gelsenkirchen
Rede von Oberbürgermeister Frank Baranowski
- Es gilt das gesprochene Wort -
Liebe Gelsenkirchenerinnen und Gelsenkirchener,
meine sehr geehrten Damen und Herren,
ein ganz herzliches Willkommen Ihnen allen! Ich freue mich sehr, dass Sie mit dabei sind, beim Neujahrsempfang unserer Stadt 2017, im schönsten Opernhaus weit und breit – in unserem Musiktheater im Revier!
Ich begrüße Sie ganz herzlich – ob Sie nun im Parkett oder auf den Rängen Platz gefunden haben; ob Sie ein politisches Mandat für die Bürgerinnen und Bürger unserer Stadt ausüben, Verantwortung in der Wirtschaft oder einer Gewerkschaft tragen; ob Sie mit Ihrer wissenschaftlichen und kulturellen Arbeit unsere Stadt bereichern, ob Sie Menschen mit Ihrer Tätigkeit in einer Religionsgemeinschaft und sozialen Initiative stärken oder aber sie auf ihrem Bildungsweg begleiten. Was immer Sie davon tun: Es ist schön, dass Sie sich in diesem Gemeinwesen einbringen! Und es ist schön, dass Sie heute mit dabei sind!
Besonders begrüßen möchte ich die Vertreter unseres Energieversorgers, der ELE, die als Sponsor diese Veranstaltung möglich macht – und dafür möchte ich Ihnen meinen ganz herzlichen Dank aussprechen!
Und ich freue mich, dass wir zahlreiche Gäste haben, die heute erstmals mit dabei sind. Ich denke vor allem an die jungen Frauen und Männer, die Jahrgangsbesten des vergangenen Jahres. Auch Ihnen – Sie sitzen im ersten Rang – ein ganz herzliches Willkommen!
Allen anderen, die diese Veranstaltung schon kennen, wird es hoffentlich so gehen wie mir: Es ist schön, sich wieder in diesem Rahmen zu treffen. Es tut gut, so viel Beständigkeit anzutreffen. Denn das entspricht ja derzeit nicht der Tagesordnung.
Nach dem Anschlag von Berlin sind wir alle mit einem mulmigen Gefühl in die Weihnachtsferien gegangen. Die Geschehnisse in der Türkei – also dort, wo die Familien vieler Gelsenkirchener leben – beschäftigt viele von uns. Wir stehen unter dem Eindruck des Brexits – und dann ist da auch noch der Mann, den die US-Amerikaner tatsächlich zu ihrem Präsidenten gewählt haben. Kurzum: Der Rückblick auf 2016 lädt nicht gerade zu Sentimentalität ein.
Und das sind nur die Fakten. Die Stimmungslage ist fast noch beunruhigender. Vielleicht haben Sie in der vergangenen Woche auch gestaunt, dass täglich der Weltuntergang ausgerufen wurde – während wir eigentlich nur das erlebt haben, was Januar-typisch ist und wir alle als Winter kennen. Doch das ist nur das drolligste Beispiel einer Aufgeregtheit, die um sich greift und teilweise sehr weitgehende und unschöne Folgen hat. Zunächst ist uns im Netz aufgefallen, in den Kommentaren, in Facebook, wie sich der Umgangston verschärft. Inzwischen aber stößt man auch offline immer wieder auf Leute, die glauben, sich einfach überall auskotzen zu dürfen.
Und wenn Sie sich jetzt wundern, dass ein Oberbürgermeister bei einem solch feierlichen Empfang „kotzen“ sagt, dann kann ich nur erwidern: Also bitte, das muss man doch mal sagen dürfen!
Aber im Ernst – geht es Ihnen nicht auch so? Dass Sie sich fragen, was eigentlich los ist? Warum alle so angespannt, kurzatmig und aufgeregt sind – als wäre die Welt erst über Nacht kompliziert geworden, als wäre sie kurz vorher noch das reinste Bullerbü gewesen? Was passiert da? Und müssen wir uns davon anstecken lassen?
Wo steht in diesen unruhigen Zeiten unsere Stadt, unser Gemeinwesen?
Es ist mit den Händen zu greifen: Wir leben in einer Zeit, in der sich etwas verändert. In der etwas auf dem Spiel zu stehen scheint – ganz grundsätzlich. In der wir Position beziehen müssen. In der wir uns fragen müssen, wo wir stehen – und wie wir das Richtige tun. Wie wir das Richtige für uns und unser Gemeinwesen tun.
Entsprechend wollen wir auch heute Abend nicht den Schwerpunkt auf ein einzelnes stadtpolitisches Thema legen, auf Stadterneuerung, Wirtschaftsentwicklung oder Nachhaltigkeit. Ich widerstehe der Versuchung, über konkrete Projekte, erzielte Fortschritte zu sprechen. Gerne im nächsten Jahr wieder.
Doch jetzt stehen andere, dringlichere Fragen an: Wie können wir sicherstellen, dass wir in Gelsenkirchen auch künftig menschlich und sicher, solidarisch und kreativ zusammenleben? Wie können wir im bevorstehenden Jahr die Kräfte stärken, die wir brauchen, weil sie unserem Gemeinwesen nutzen?
Wie stets wollen wir als Anstoß für unsere Diskussionen – später im Foyer, vielleicht auch noch in den kommenden Tagen – eine Stimme von außen hören. Wobei unser Gast das Ruhrgebiet sehr gut kennt, er war lange am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen tätig. Dort hat er als Sozialpsychologe erforscht, wie sich Menschen in unübersichtlichen Zeiten verhalten, wie sich in Umbruchszeiten erst die Sprache wandelt, wie sich dann normative Rahmen verschieben – und plötzlich Verhaltensweisen möglich werden, die bis dahin als völlig ausgeschlossen galten.
Unser Gast hat Projekte wie „Futur Zwei“ oder die Initiative „Die Offene Gesellschaft“ mit begründet, viele von uns kennen seine Bücher und Artikel, er ist einer der bekanntesten Intellektuellen des Landes – und vermutlich genau der richtige Gesprächspartner für heute Abend. Sehr geehrter Herr Professor Welzer, ich freue mich sehr, Sie in Gelsenkirchen begrüßen zu dürfen!
In der Tat: Es ist nicht so einfach in diesen Tagen, seinen inneren Kompass einzustellen. Ich weiß nicht, ob man dafür einen Psychologen braucht; aber ganz sicher ist es so, dass wir 2017 eine Antwort finden müssen auf eine grundsätzliche Frage: Wie bekomme ich Sicherheit für mich und mein Handeln, wenn mir ständig suggeriert wird, dass um mich nur Unsicherheit, Wandel und Bedrohung herrschen?
Wir leben in einer Welt, in der man sich gefährdet fühlt – gefährdeter als man ist –, und doch wissen wir alle, dass es das nicht sein kann. Dass man anders leben will und auch anders leben muss. Dass wir Vertrauen haben müssen – und vorleben müssen, gerade unseren Kindern. Dass es im Grunde eine Frage der Selbstachtung ist, auch bei schwieriger Nachrichtenlage nicht der Aufgabe auszuweichen, die wir alle haben – der Aufgabe, unser Leben und unsere Lebensumstände zu gestalten; sie bestmöglich zu gestalten, und zwar hier, wo wir unser Leben verbringen, in unserem Umfeld, in unserer Stadt: in Gelsenkirchen.
Es braucht Mut, Wahrhaftigkeit, Engagement. Kurz: Es braucht Haltung.
Es ist eine Frage der Selbstachtung, und darum muss genau das auch 2017 unser Anspruch sein: In dem Bereich, in dem wir etwas bewirken können, den unguten Entwicklungen etwas entgegenzusetzen. Das geht, das ist keine Frage. Das geht, auch wenn die Versuchung nahe liegt, sich herauszureden mit dem großen Ganzen, auf das man ja doch keinen Einfluss hat. Es geht, wenn man sich denn nicht auf eine Egal-Haltung zurückzieht, sondern etwas Anderes tut – nämlich eine echte Haltung entwickelt. Eine Haltung, die von Mut, Engagement und Wahrhaftigkeit geprägt ist.
Und weil sich Haltung bekanntlich darin zeigt, zuerst vor seiner Haustür zu kehren, will ich heute nicht darüber reden, was andere tun müssten, das Personal der Talkshows, mein Nachbar. Ich beginne bei uns, bei mir. Bei dem, was die Stadt macht. Denn die Stadt handelt – das ist unser Anspruch, oft genug auch gelebte Realität – nicht nach Reflexen, nicht nach dem, was gerade opportun ist, was eine Medienblase oder Facebook-Welle vorgibt. Sondern nach Werten, mit Methode – und der Bereitschaft, sich an Resultaten messen zu lassen.
Weil wir dazu bereit sind, möchte ich mit Ihnen auf ein Thema schauen, das unser Land zuletzt bewegt hat wie kaum ein zweites: das Thema Flüchtlinge. Warum, möchte ich Sie fragen, warum ist die Aufnahme von Flüchtlingen bei uns so gelaufen, wie sie gelaufen ist – nämlich so, dass wir sie als gut bewältigt bezeichnen können? Ohne echte gesellschaftliche Verwerfungen.
Warum ist es hier nicht so gelaufen wie in manchen Nachbarstädten, wo die Stimmung teilweise ganz anders ist?
Nun, vielleicht beginnt das schon mit einer der ersten Entscheidungen im Jahr 2015: Wir haben sehr früh gesagt, wir nehmen nicht nur einige wenige Stadtteile in die Pflicht, sondern die ganze Stadt. Eine gesamtstädtische Aufgabe ist eben von der ganzen Stadt zu tragen!
Wir sehen die Folgen dieser Haltung: In der verbreiteten Akzeptanz, vor allem aber in der enormen Bereitschaft so vieler Bürger, zu helfen. Und wir spüren, dass sich das Handeln der Stadt und das ehrenamtliche Engagement verstärken. Wobei dieses Engagement keine Selbstverständlichkeit ist. Darum möchte ich auch hier gerne ein weiteres Mal „Danke!“ sagen, all jenen, die sich eingebracht und eine beeindruckende Haltung unter Beweis gestellt haben!
Unsere Haltung zeigt sich im Umgang mit Flucht und Zuwanderung
Am Beispiel der Flüchtlingsaufnahme kann man ein Muster erkennen, eine Methode, die wir auch in vielen anderen Themenfeldern anwenden: Wir versuchen, möglichst alle Beteiligten einzubinden – auch wenn man am Ende natürlich nicht alle Wünsche erfüllen kann. Aber wir spielen keine Gruppe gegen eine andere aus. Niemand soll sich abgehängt oder allein gelassen fühlen. Und dann handeln wir so, dass möglichst viele Menschen in die gleiche Richtung denken und agieren können.
Das ist das Prinzip. Und dieses Prinzip erkennen Sie auch bei einem zweiten Thema, das nicht eben populär ist, über das ich aber gerade deshalb sprechen will: die Zuwanderung aus Südosteuropa. Auch da ging und geht es um Haltung und Methode. Wir sagen nicht, dass wir die Freizügigkeit von EU-Bürgern grundsätzlich ablehnen. Wir sagen jedoch, und das sehr deutlich: Wir wollen nicht, dass auf dem Rücken von Menschen, dass mit ihrem Schicksal und ihren schwierigen Lebensumständen Geld gemacht wird – und dass dabei quasi im Nebeneffekt das gute Zusammenleben bei uns gefährdet wird! Dafür haben wir überhaupt keine Toleranz!
Und dagegen gehen wir vor, und zwar mit allen Mitteln, die wir haben! Und wir schauen in enger Zusammenarbeit mit dem Land, dass wir dazu noch mehr Mittel an die Hand bekommen!
Vor allem aber haben wir auch klargemacht: Wir lassen keinen Stadtteil, keine Nachbarschaft allein. Wir haben den Kommunalen Ordnungsdienst ausgebaut, wir haben Mülldetektive losgeschickt, die Sicherheit von Häusern überprüft und viele versiegelt – und damit Räume für ein unschönes Geschäftsmodell geschlossen!
Meine Damen und Herren,
ich habe jetzt über ein Themenfeld gesprochen, das gemeinhin unter dem Label „Integration“ läuft – weil mehr oder weniger alles, was in Deutschland mit Zuwanderung zu tun hat, diese Überschrift erhält. Aber, um es einmal plakativ zu sagen: Integration ist eigentlich gar nichts für Ausländer. Oder, etwas weniger plakativ: Integration ist nicht nur etwas für Ausländer. Denn der Wunsch nach Integration hängt nicht von Zuwanderung ab. Dass eine Gesellschaft funktioniert, zusammenhält, das ist so oder so wichtig; egal, ob jemand dazukommt oder nicht. Und dafür arbeitet die Stadt mit ihren Partnern, insbesondere beim Zugang zu Bildung und zum Arbeitsmarkt. Für neu Dazukommende wie auch für Einheimische.
Sprechen wir also über die Integration in den Arbeitsmarkt: Jahr für Jahr verzeichnet das Statistikamt des Landes – IT-NRW - einen Zuwachs von mehr als eintausend sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen in Gelsenkirchen. Seit 2006 wachsen die Beschäftigtenzahlen auf immer neue Höchstzahlen, von 2006 bis 2015 um 14 Prozent, das ist weit mehr als in anderen Revierstädten. Und es steigt der Anteil von Arbeitnehmern mit akademischer Ausbildung zudem überdurchschnittlich stark.
Dass sich auf dem Gelsenkirchener Arbeitsmarkt Jahr für Jahr neue Türen öffnen, das hat auch etwas mit Haltung und Methode zu tun. Warum? Weil es uns in unseren Bemühungen nicht um den raschen statistischen Effekt geht, sondern um langfristige Wirkung. Weil es uns darum geht, Strukturen aufzubauen, die auf Dauer tragen und immer neue Chancen bieten. Ganz konkret auch Infrastrukturen! Nicht umsonst haben wir unser Hauptaugenmerk darauf gerichtet, alle Gewerbegebiete und alle Schulen ans schnelle Glasfasernetz anzuschließen. Damit sind wir landesweit ganz vorn. Das wird nicht sofort, aber auf mittlere Sicht Folgen und Erfolge mit sich bringen. Und darum geht es.
Ja, es kommen Menschen dazu. Aber wir lassen niemand zurück.
Dabei wissen wir natürlich alle, wie das Gegenstück zu dieser Nachricht aussieht: An zu vielen Menschen in Gelsenkirchen geht jede Dynamik auf dem Arbeitsmarkt vorbei. Das ist nicht zu übersehen. Und auch wenn das nicht neu ist, dürfen wir uns nicht daran gewöhnen. Denn es ist doch ein Skandal, dass so vielen Menschen etwas ganz Essentielles und Elementares vorenthalten wird: Die Chance, tätig zu sein. Die Chance, für sich und ihre Familie zu sorgen, einen Beitrag zur Gesellschaft und zum gesellschaftlichen Wohlstand zu leisten. Jeder Mensch braucht eine Aufgabe, eine Arbeit, die er gerne und gut erfüllt – und die Selbstachtung ermöglicht!
Darum ist unsere stete Forderung nach einem Sozialen Arbeitsmarkt so wichtig – und immerhin hat sich die Landesregierung diese Forderung nun zu eigen gemacht und startet einen Modellversuch. Und ich verspreche Ihnen, dass wir auch die künftigen Regierungen in Land und Bund daran erinnern werden!
Und weil wirklich jeder und jede Einzelne zählt, zählen muss, heute und in Zukunft, weil keiner außen vor bleiben darf, weil uns Integration ganz grundsätzlich ein Anliegen ist – darum setzen wir uns auch mit allen Mittel für eine gute Bildung ein. Für jedes Kind, von Anfang an. Sie alle kennen unser Engagement in dieser Frage. Sie wissen von der Anerkennung, mit der über das Gelsenkirchener Modell gesprochen wird. Und Sie alle kennen inzwischen auch das Konzept der TalentScouts der Westfälischen Hochschule, das perfekt zu unseren städtischen Anstrengungen passt. Warum? Weil es mit dafür sorgt, dass junge Menschen nach erfolgreichem Kita und Schulbesuch nicht auf der Straße landen, sondern ihre Chancen verwirklichen können. Dass das Talentzentrum des Landes Nordrhein-Westfalen schließlich in unsere Stadt gekommen ist, ist eine folgerichtige Entscheidung und eine verdiente Anerkennung Gelsenkirchener Bildungspolitik!
Was ein Gemeinwesen zusammenhält
Ja, meine Damen und Herren, unsere Stadtgesellschaft verändert sich. Es kommen Menschen dazu, es werden mehr Kinder geboren. Gelsenkirchen wächst seit einigen Jahren wieder, und wird nochmals bunter und vielfältiger. Doch bei aller Veränderung bleibt eins gleich: Wir lassen niemand allein und niemand zurück. Auch die wachsende Stadt Gelsenkirchen wird allen, die hier leben, eine echte und gute Heimat bieten!
Was diese Heimat ausmacht, was sie besonders macht – darüber darf man in dieser bewegten Zeit allerdings gerne noch einmal nachdenken. Denn Gelsenkirchen blickt ja auf eine bemerkenswerte Geschichte zurück: Wir haben hier erlebt, wovor viele Angst haben. Wir haben erlebt, woran eine Gesellschaft – zumindest theoretisch – zerbrechen könnte. Wir wissen, wie es ist, wenn die Geschäftsgrundlage eines Gemeinwesens wegfällt, ja wegbricht. Allein in den Branchen Kohle und Stahl sind in Gelsenkirchen 80.000 Arbeitsplätze verloren gegangen. Welche andere Stadt hat das erlebt und dann auch überlebt? Sie kennen vielleicht die Bilder aus Detroit und anderen amerikanischen Städten. Richtig hoffnungsvoll sieht das dort nicht aus.
Wenn wir also von Belastungsgrenzen einer Gesellschaft sprechen – in jenen Jahren waren sie hier ganz sicher erreicht, ja überschritten. Das war eine ganz andere Belastungsprobe als die, von der heute manche reden. Wenn man sich nur noch einmal die Zahl der weggefallenen Arbeitsplätze und Existenzgrundlagen in der Montanindustrie vor Augen führt – 80.000 – dann kann man kaum glauben, dass einige Leute kürzlich einen ähnlichen Ausnahmezustand gesehen haben – bei einigen tausend zugewiesenen Flüchtlingen in Gelsenkirchen – oder entsprechend ähnlich vielen an anderen Orten!
Und darum mal im Ernst: Hat irgendjemand unter uns im vergangenen Jahr deswegen auch nur ein Butterbrot oder ein Stück Kuchen weniger essen können?
Also: Lassen wir uns nicht anstecken von der verbreiteten Aufregung! Lassen wir uns nicht irre machen! Gelsenkirchen hat schon ganz anderes erlebt, hat den Strukturbruch überlebt, ohne hysterisch und ohne unsolidarisch zu werden! Und Gelsenkirchen hat dabei immer Haltung bewiesen. Das war und ist eine enorme Leistung. Das kann, ja sollte Anlass zu Selbstbewusstsein und Stolz sein.
Stichwort Wahrhaftigkeit: Unsere Stadt richtig sehen und bewerten.
Und es sollte auch eine Mahnung sein – eine Mahnung daran, dass wir auf unsere Stadt mit einem Blick schauen, der ihr gerecht wird. Mit einem Blick, der nichts verschönert, aber auch nichts eintrübt. Denn unsere Stadt ist ja weder schwarz noch weiß. Sie ist bunt, und manchmal, zugegeben, auch grau, wie andere Städte auch. Es wäre viel gewonnen, wenn wir in Zukunft komplexe Situationen angemessen beschreiben und keine allzu schlichten Lösungen suchen. Auch und gerade beim Thema Sicherheit. Denn ich bin überzeugt, dass man Populismus nicht verhindert, indem man sich ihm annähert – oder mit Angst Politik macht. Ich würde sofort unterschreiben, was Harald Welzer geschrieben hat: Eine Politik der Angst – die ist stets populistisch!
Und ich möchte ergänzen: Eine Politik der Angst – das ist ein echtes No-Go! Und eines der ganz wenigen No-Goes, die ich in Gelsenkirchen kenne!
Wir tun viel für die öffentliche Sicherheit in Gelsenkirchen. Wir tun, was nötig ist. Und noch mehr. Aber wir tun es, ohne Bedrohung herbeizureden – auch wenn das die herrschende Nervosität scheinbar verlangt. Und nicht zuletzt: Wenn wir über Sicherheit reden, dann sollten wir auch über das reden, was zuallererst Sicherheit schafft – nämlich Dinge, über die in dieser Debatte kaum gesprochen wird. Bildung und Lebenschancen zum Beispiel, gesellschaftlicher Zusammenhalt, intakte Nachbarschaften, eine intakte Stadt-Gesellschaft, das Miteinander von Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen in Sportvereinen und bei anderen Gelegenheiten!
Darum nochmals: Wir können aus den Erfahrungen unserer Stadt sehr viel lernen – und haben das auch getan. Manchmal aber – in unübersichtlichen Zeiten wie diesen – scheint es dennoch nötig, noch einmal innezuhalten und sich das vor Augen zu führen. Wir in Gelsenkirchen haben gelernt, dass es vor allem zwei Faktoren sind, die eine Gesellschaft zusammenhalten, die Integration gewährleisten: Erstens dass Menschen ihre Arbeit tun, dass die kommunale Selbstverwaltung ihre Aufgaben erfüllt, dass öffentliche Angebote da sind und Regeln respektiert werden.
Zweitens aber auch – und das ist nicht bloß genauso wichtig, es ist sogar noch wichtiger, noch entscheidender, noch weniger verzichtbar – zweitens gehört dazu, dass sich Bürger und Unternehmen zu ihrem Gemeinwesen bekennen; dass Menschen sich zusammentun, in Vereinen, in Initiativen, in der Nachbarschaft. Dass sie sich unterstützen, die Jungen und Heranwachsenden wie auch die Älteren – denn wir alle wissen: Es gibt da im Miteinander der Menschen etwas, das keine offizielle Stelle leisten kann. Und darauf kommt es ganz besonders an.
Am Ende bekommen wir die Gesellschaft, die wir verdienen.
Meine Damen und Herren, es gibt keinen Zweifel: Wir stehen am Beginn eines besonderen Jahres. Die Welt wird vermutlich nicht ruhiger und friedvoller, wenn der einflussreichste Mensch Donald Trump heißt. Es ist darum keine Schande, wenn wir heute mehr Fragen haben als Antworten. Und doch bin ich fest davon überzeugt, dass wir am Beginn eines Jahr stehen, vor dem uns nicht bange sein muss. Aus einem einfachen Grund: Weil wir in Gelsenkirchen über ein paar ganz entscheidende Ressourcen verfügen.
Wir verfügen über diese Ressourcen, weil wir wichtige Erfahrungen gemacht haben.
Weil wir einen inneren Kompass haben.
Weil wir ein Gemeinwesen haben, das funktioniert. Weil wir hier gemeinsam in einer offenen, solidarischen und kreativen Stadt leben, in der sich ständig neue Chancen und Perspektiven eröffnen – ich würde sogar sagen: In der sich immer mehr Chancen eröffnen – die wir 2017 mutig ergreifen wollen! Und wir wissen eben auch, dass das, was oben auf dem Banner dieses Hauses steht, von vielen Menschen gelebt, bewusst gelebt und auch geschützt wird: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Und weil das so ist, wird dieser Satz im Jahr 2017 auch noch einmal eine besondere Rolle in unserer Stadt spielen, in unseren Kitas, in unseren Schulen. 2017 (und nicht nur 2017) wird das Jahr der Menschenwürde in Gelsenkirchen!
Das Signal, das heute von unserem Musiktheater ausgehen soll, ist aber keines, was lediglich von dem Banner an seinem Dach ausgeht. Dieses Signal muss von uns allen, die wir uns heute in diesem Haus versammelt haben, ausgehen! Wir alle stehen in der Verantwortung. Es liegt an uns. Da kann uns kein Populist, kein Brexit, kein Salafist von abbringen. Denn in einer Demokratie ist es am Ende stets so, dass wir die Gesellschaft bekommen, die wir verdienen. Es gibt da keine Automatismen, kein Schicksal – es liegt an uns. An Ihnen und an mir.
Es liegt an uns. Daran, dass wir Haltung zeigen, dass wir unsere gesellschaftliche Verantwortung nicht zur Seite schieben, sondern bewusst wahrnehmen. Schon in unserem alltäglichen Handeln und Verhalten. Wir entscheiden mit darüber, dass es in dieser Gesellschaft fair zugeht, dass wir uns gegenseitig in die Augen schauen können. Dass wir miteinander reden!
Dass wir uns umeinander kümmern!
Und dass wir voreinander Respekt haben!
Wenn wir das beherzigen; wenn wir unsere Haltung nicht nur Zuhause vorführen, sondern auch draußen auf der Straße; wenn wir uns nicht selbst klein machen oder von Dritten klein reden lassen; wenn wir Respekt haben, aber auch Respekt vorleben; wenn wir den Mut haben zu Wahrhaftigkeit und Engagement, dann hat das seine Wirkung.
Dann macht das einen erheblichen Unterschied. Dann machen Sie, dann machen wir 2017 einen Unterschied – und dann wird das Jahr 2017 auch ein gutes Jahr!
Ihnen allen und der Stadt Gelsenkirchen möchte ich darum heute nicht nur wie sonst mein ganz herzliches „Glück auf!“ für 2017 zurufen, sondern darüber hinaus noch eines – nämlich:
Bleiben wir mutig!