09. November 2015, 20:19 Uhr | Stadt Gelsenkirchen
Rede von Oberbürgermeister
Frank Baranowski
- Es gilt das gesprochene Wort -
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
liebe Gelsenkirchenerinnen und Gelsenkirchener,
tausende und abertausende Menschen fliehen, weil sie in ihrer Heimat nicht mehr in Sicherheit leben können. Doch wohin sie sich auch wenden, sie stellen immer wieder fest: Wer helfen könnte, schaut weg. Wer Asyl gewähren müsste, macht die Grenzen dicht – die meisten Staaten wollen die Flüchtlinge nicht aufnehmen.
Was in unseren Ohren wie eine Beschreibung der Gegenwart klingt und vielleicht auch klingen muss, ist eine weit ältere Geschichte. Es ist auch eine Beschreibung der dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts; einer Zeit, als die Menschen gerade nicht nach Deutschland flohen, sondern aus Deutschland. Und als diese Flucht ganz eindeutig eine Frage von Leben und Tod war. Spätestens in den Abendstunden des 9. November 1938 wurde das für alle sichtbar. Die stille Hoffnung mancher, die Zeit des Nationalsozialismus werde schon irgendwie vorübergehen, es werde trotz allem doch nicht so schlimm kommen – die war vergeblich und trügerisch.
Was kam, war viel schlimmer als alles, was man sich ausgemalt hatte. Es war ein Zivilisationsbruch, der uns noch heute schreckt. Und deshalb erinnern wir auch Jahr für Jahr gemeinsam an diesen offenen Ausbruch von Gewalt am 9. November 1938, der – wie wir heute wissen – den Auftakt für viele weitere und noch größere Verbrechen bis 1945 bildete. Wir erinnern an einen Moment, an dem auch unsere Stadt zum Schauplatz für eine kaum glaubliche Hatz auf Menschen wurde. An eine noch immer beschämende Nacht, als Gelsenkirchenerinnen und Gelsenkirchener über ihre eigenen Nachbarn herfielen, nur weil sie einen anderen Glauben hatten.
Wir haben aus diesem Grund heute zwei sehr unterschiedliche Gelsenkirchener Erinnerungsorte aufgesucht, die beide mit dieser Geschichte verbunden sind. Wir waren zunächst am Kriegerdenkmal auf dem Schalker Verein aus dem Jahr 1937. Einem Denkmal, das nicht ohne Grund so kurz vor dem nächsten Krieg errichtet wurde: Es gibt zwar vor, ein Ort des Gedenkens an die Opfer des Ersten Weltkrieges zu sein; offenkundig sollte es aber dazu dienen, die Menschen auf den nächsten Krieg vorzubereiten. Heute ist es uns ein unbequemes Mahnmal der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts.
Von diesem Mahnmal aus sind wir nun zum alten Jüdischen Friedhof weitergezogen, zu einem Ort der Erinnerung an jüdisches Leben, das in Gelsenkirchen einmal ganz selbstverständlich war – und es dann sehr lange nicht mehr sein konnte. Schon 1937, als das Kriegerdenkmal errichtet wurde, war es das nicht mehr. Nach den Pogromen im Jahr 1938 reißen die Spuren des jüdischen Lebens in Gelsenkirchen ab. Vielleicht so ein Leben wie das von Leo Yehuda Menachem Knecht, der im September 1927 gestorben ist und der hier auf dem Friedhof an der Wanner Straße begraben wurde. Ich freue mich sehr, dass seine Enkelkinder Sandy und David heute aus Großbritannien bzw. Israel den Weg nach Gelsenkirchen gefunden haben, um diesen Tag mit uns zu begehen. Herzlich willkommen!
Einige Nachfahren der hier bestatteten Menschen sind gerade noch rechtzeitig aus Deutschland entkommen. Wir sehen auf diesen Friedhof beispielsweise die Gräber der Familie Gompertz, einer Familie, die über mehrere Generationen in Gelsenkirchen lebte und an der Bahnhofstraße ein Geschäft für Pelzwaren hatte. Dieses Geschäft wurde am Abend des 9. Novembers 1938 zerstört – von Schulkameraden des Sohnes Albert, und das unter der Anleitung eines Lehrers. Wenn wir also sagen, es war ein brauner Mob am Werk – dann sollten wir bedenken: Es war ein Mob, der sich aus allen Gesellschaftsschichten rekrutierte!
Die Familie Gompertz konnte zum Glück noch fliehen. Sie schaffte es nach dem Novemberpogrom in die USA, Vater Leo eröffnete in New York erneut ein Pelzgeschäft. Sein Sohn Albert meldete sich zur US-Armee und kehrte wenige Jahre später tatsächlich wieder zurück nach Europa und auch Gelsenkirchen – als siegreicher GI.
Allerdings, so bewegend und vielleicht auch tröstlich diese eine Familiengeschichte auch sein mag: Sie war nicht der Regelfall. Einen guten oder glimpflichen Ausgang hatten nur sehr wenige Geschichten. Viele jüdische Familien - nicht nur aus Gelsenkirchen - haben es im Unterschied zur Familie Gompertz nicht geschafft. Sie konnten nicht fliehen, sie fanden kein Asyl. Sie konnten dem Herrschaftsgebiet der Nazis nicht entrinnen, und in letzter Konsequenz bedeutete das fast immer: Sie wurden ermordet.
Meine Damen und Herren,
die Ereignisse des 9. Novembers 1938 müssen uns – das wissen wir alle – in vielerlei Hinsicht eine Mahnung sein. Sie müssen das auch in Zukunft bleiben, wenn es immer weniger Zeitzeugen gibt. Diese Geschichte darf nie zu einer blassen Erzählung aus grauer Vorzeit werden. Gerade in diesen Tagen spüren wir, wie wichtig das ist.
Wir spüren das derzeit durchaus im positiven Sinne, weil unser Land in vielem ja tatsächlich die richtigen Lektionen gelernt hat und genau das 2015 auch sehr sichtbar wird. Wir haben nicht aus Zufall im unserem Grundgesetz ein Asylrecht verankert – und zwar ein Asylrecht, das ein Individualrecht ist und nicht nach Kontingenten und Gutdünken vergeben wird. Die Generation derer, die den Krieg überlebt hatten, die wusste, warum das nötig war. Viele Menschen wissen es immer noch. Wobei es letztlich keine große Rolle spielt, ob es eine richtig verstandene historische Lehre ist oder einfach Empathie und Menschlichkeit: Hunderttausende, ja Millionen Frauen und Männer aus unserem Land haben in den vergangenen Wochen das Richtige getan und haben Menschen geholfen, die auf der Flucht waren. Es ist immer wieder großartig, zu sehen, mit welchem Einsatz so viele Menschen in Gelsenkirchen und ganz Deutschland tätig waren – ob sie nun Kleider gespendet haben, Essen ausgeteilt, Deutschkurse gegeben, bei Behördengängen geholfen oder übersetzt haben.
Zugleich wissen wir auch: Das ist leider nur ein Teil des Bildes. Es gibt genauso die Gegenseite und die Gegenkräfte. Es gibt nach wie vor viel zu viele Leute in unserem Land, die die Vergangenheit nicht verstanden haben und sich darum auch in der Gegenwart irren. Jetzt zum Beispiel, genau in dieser Stunde treffen sich in Dresden ein weiteres Mal die Demonstranten der sogenannten Pegida. Es treffen sich selbst ernannte Abendlandretter, die nichts von der Geschichte unseres so vielfältigen Kontinents verstanden haben – das aber laut kundtun. Es treffen sich Leute, die sich mutig und großspurig geben – und sich dann von schutzbedürftigen, hungernden Flüchtlingen bedroht fühlen. Es treffen sich Leute, die sich selbst als Opfer bedauern, aber keinerlei Probleme damit haben, andere ohne jeden Respekt abzuwerten. Es treffen sich Leute, für die immer der andere der Nazi ist – und nie sie selbst.
Wir haben es aus den dreißiger Jahren gelernt, wir haben es lernen müssen: Es beginnt mit Worten und endet mit Taten. Auch die Nazis haben mit verbaler Hetze begonnen, ehe sie tätlich wurden. Genauso sind auch heute verbale Entgleisungen – ob auf Dresdener Straßen, in Talkshows, bei Facebook – sehr wohl dazu angetan, Hemmschwellen sinken zu lassen, rechten Wirrköpfen das Gefühl zu geben, im Recht zu sein, nur das zu tun, was eine schweigende Mehrheit ebenfalls will – und das mit den schlimmsten Folgen.
Wir haben derzeit nicht nur eine großartige Willkommenskultur in Deutschland – wir müssen auch feststellen, dass immer wieder auch Flüchtlingsheime brennen. Die Mordserie des NSU ist noch nicht lange her. Mit dem brutalen Attentat auf Henriette Reker, auf unsere frühere Sozialdezernentin, haben wir einen weiteren politisch motivierten Mordversuch in unserem Land. Das ist eine Eskalationsstufe, die nicht nur mich erschreckt – und die uns allen zu denken geben muss.
Ja, meine Damen und Herren: Unsere Demokratie wird immer wieder aufs Neue herausgefordert. Auch jetzt, auch in dieser so bewegten Zeit. Es steht wieder einmal viel auf dem Spiel. Wieder einmal müssen wir klammheimlichen und offenen Rassisten klar machen, dass sie in unserem Land in der Minderheit sind. Dass niemand ausgerechnet von ihnen gerettet werden will. Dass es keine Akzeptanz für ihre Parolen gibt und geben darf. Nirgendwo und schon gar nicht in unserer Stadt. Wir müssen den Rechten wieder und wieder verdeutlichen, dass sie in Gelsenkirchen nicht erwünscht sind – so, wie wir das zuletzt am 1. Mai bei der Kundgebung in Rotthausen sehr überzeugend getan haben.
Ich bin zuversichtlich, dass uns das auch in Zukunft gelingen wird – aber entscheidend ist: Wir müssen es tun. Die Anlässe dazu wird es wieder geben. Und dann müssen wir wachsam sein, im richtigen Moment auf die Straße gehen oder das Wort ergreifen. Ich danke allen, dass Sie heute dabei sind und damit ein wichtiges Statement abgeben!