02. November 2015, 17:05 Uhr | Stadt Gelsenkirchen
„Wir sind so glücklich, hier in Gelsenkirchen zu sein. Worauf wir unsere Hoffnungen gesetzt haben, das haben wir hier in Gelsenkirchen gefunden. Die Menschen sind hier alle sehr freundlich und hilfsbereit“, sagen Sarmad und seine Frau Haneen Al Ruwiee. Dabei haben die Eltern der kleinen Rienad – ebenso wie viele andere in Gelsenkirchen angekommene Flüchtlinge – eine abenteuerliche und auch gefährliche Reise hinter sich.
Ihre Odyssee führte die Familie aus dem Irak über die Türkei, Griechenland, Mazedonien, Serbien, Ungarn und Österreich nach Deutschland. Von der Türkei aus starteten sie mit einem kleinen Schlauchboot in die Ägäis. Als das mit 50 Personen besetzte Boot zu kentern drohte, wurden die Insassen von der türkischen Küstenwache gerettet. Beim zweiten Versuch klappte die Überfahrt. Die Grenzen auf den Balkan waren nicht anders zu passieren als durch nächtliche Gewaltmärsche durch dunkle Wälder, das einjährige Töchterchen Rienad in der Babytrage um den Bauch des Vaters geschnallt.
6.000 Dollar hat die Familie die Flucht gekostet. Die gingen hauptsächlich an Schleuser für Boots- oder Lkw-Transport. Aber auch an Erpresser. „Nach dem Grenzübertritt nach Ungarn waren wir vollkommen erschöpft. Wir haben uns einfach auf die Autobahn gestellt. 600 Euro wollten die Männer für die Fahrt nach Budapest“, erzählt der gelernte Automechaniker. Dort angekommen, wurden noch einmal 100 Euro erpresst. Sonst werde die Polizei geholt.
Eine Erpressung im kleinen Stil, wenn man es mit dem vergleicht, was in Bagdad zur Tagesordnung gehört. Als sie von ihrem entführten Vater berichtet, steigen der jungen Irakerin Tränen in die Augen. „60.000 Dollar bekamen die Entführer. Wir hatten unser Haus verkaufen müssen. Doch die Erpressung ging weiter. Mit Fotos, auf denen mein Vater zu sehen war, wie er gefoltert wurde. Zum Schluss forderten sie noch das Auto“, erzählt Haneen. Ein Alptraum, der noch nicht zu Ende ist. Der Vater ist bis heute verschwunden, wahrscheinlich tot.
Auch der 12-jährige Bruder und der Vater von Sarmad wurden entführt – kamen aber nach Zahlung eines Lösegeldes wieder frei. In Bagdads Straßen, so Sarmad, haben marodierende, religiös motivierte Banden das Sagen, ein sicheres Leben ist kaum mehr möglich. „Wenn ein Auto am Straßenrand länger als fünf Minuten parkt, rennen die Menschen weg, weil sie fürchten, dass gleich eine Autobombe hochgeht.“
Geschichten wie diese hört man auch von anderen Bewohnern der Notunterkunft an der Breddestraße. Auch die Flüchtlinge aus dem Iran, aus Syrien, Afghanistan, Pakistan, Bangladesch, Marokko, Sudan, Ghana und Eritrea haben dramatische Erlebnisse gemacht. Vielleicht ist es das, was die Bewohner zusammenschweißt. Sarmad und Haneen haben sich mit Walad und Gorye al Bakour aus Syrien angefreundet. Beide Familien teilen sich eine 22 Quadratmeter große Parzelle in der Notunterkunft. Und auch nach dem Umzug in die eigene Wohnung wollen sie Tür an Tür leben. Syrer und Iraker? Geht das? „Klar, sagt Walad al Bakour. Ich habe mich hier auch mit einem Bangladescher angefreundet. Wir sind mittlerweile wie Brüder. Die Verschiedenheit aufgrund der Nationalität spielt hier keine Rolle.“ Der 25-jährige Syrer und seine 18-jährige Frau Gorye haben eine ähnlich strapaziöse Flucht hinter sich. Hochschwanger hat Gorye dabei viel Gewicht verloren. „Dem Kind im Mutterleib geht es gut“, wurde ihr in einem Erstaufnahmelager in Deutschland versichert. Einen ersten Pass aus Deutschland hat sie bereits: den Mutterpass mit dem Stichtag der Geburt. Das ist in vielfacher Hinsicht Hoffnung auf ein neues Leben in Gelsenkirchen.