"Mit alten Köpfen zu neuen Zeiten"
Prof. Dr. Stefan Goch vom Institut für Stadtgeschichte über den demokratischen Neubeginn 1945
13. August 2015, 15:48 Uhr | Stadt Gelsenkirchen
Professor Dr. Stefan Goch im Interview. Foto: Caroline Seidel.
Wer hatte nach der Befreiung vom Nationalsozialismus das Sagen in der Stadt?
Die Amerikaner marschierten zwar in Gelsenkirchen ein, übergaben aber nach einigen Wochen die Militärregierung an die Briten. Die Siegermächte hatten ja bereits vor dem Kriegsende vereinbart, welches Gebiet in welche Hände kommt. Die Briten verfolgten die Strategie des „indirect rule". Sie bestimmten zwar, wo es lang geht, ließen es aber von Deutschen ausführen. Schon im Herbst 45 bildeten sie einen Bürgerrat mit Personen, die sie für politisch vertrauenswürdig hielten.
Wer saß zum Beispiel im Bürgerrat?
Da ist zum Beispiel der Bueraner Kaufmann Josef Weiser als Repräsentant der Zentrumspartei, oder die Sozialdemokratin Margarete Zingler. Menschen, die schon vor dem Krieg politisch aktiv waren. Es waren die alten Köpfe, mit denen man in neue Zeiten aufbrach. Aber anders war es ja auch gar nicht möglich.
Wann wurde der erste Rat der Stadt gewählt?
Der Bürgerrat war nur rund ein Jahr im Amt. Schon im Herbst 1946 gab es eine Kommunalwahl, die nach dem in Großbritannien üblichen Mehrheitswahlrecht durchgeführt wurde. Die SPD ging aus diesen Wahlen als stärkste Partei hervor und konnte ihren Stimmenanteil mit etwa 38 Prozent im Vergleich zur Weimarer Republik mehr als verdoppeln. Die KPD kam auf fast18 Prozent und verlor mehr als ein Drittel der Stimmen. Stark war das katholische Lager, in dem es CDU und Zentrum zusammen auf etwa 40 Prozentbrachten. Beim Mehrheitswahlrecht gewinnt den Wahlkreis, wer dort die meisten Stimmen bekommt. So war es möglich, dass die SPD 70 Prozent der Sitze im Rat der Stadt hatte, obwohl sie im gesamten Stadtgebiet nur auf 38 Prozent der Stimmen gekommen war.
In der Weimarer Republik war die SPD bei weitem nicht so stark. Wie ist der Stimmenzuwachs zu erklären?
Dazu muss man zunächst auf die Ausgangslage vor 1933 zurückblicken. Da gab es das in SPD- und KPD-Anhängerschaft gespaltene sozialistische Arbeiterlager, in dem die KPD deutlich stärker war als die SPD. Das katholische Lager war zwischen 20 und 25 Prozent stark. Bleiben noch die vielen kleinen bürgerlichen oder protestantischen Parteien, die das nationale Lager bildeten. Dieses Lager schrumpfte stark zugunsten der Nationalsozialisten. Und - das ist etwas, was wir heute im Blick behalten sollten - die Nationalsozialisten mobilisierten die Nichtwählerinnen und Nichtwähler. Es war die NSDAP, die erheblich vom der stark gestiegenen Wahlbeteiligung profitierte. Nach dem Zweiten Weltkrieg sind die nationalen und protestantisch geprägten Kräfte quasi heimatlos. Für Teile von ihnen ist die damalige SPD die einzige gesamtdeutsche Partei. Der SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher ist ein national denkender Politiker, stolz darauf für das Vaterland ein Bein im Ersten Weltkrieg verloren zu haben. Adenauer hingegen gilt als Politiker der West-Alliierten. So konnte die SPD auch in Gelsenkirchen aus der Konkursmasse des nationalen Lagers Stimmen gewinnen. Die KPD verlor im aufkommenden Kalten Krieg im Arbeiterlager an Boden.
Personell wurde aber überwiegend an die Zeit der Weimarer Republik angeknüpft?
Ja, woher sollten auch neue Akteure kommen? Es sind die Menschen, die schon vor 1933 politisch aktiv waren. Man knüpft dort wieder an, wo man ab 1933 zum Aufhören gezwungen wurde. So ist im Protokollbuch des SPD-Ortsvereins Ückendorf nachzulesen, dass bei einer ersten Zusammenkunft noch kurz vor Kriegsende der alte Vorstand selbstverständlich noch im Amt ist. Als im Jahr 1946 der SPD-Politiker Kurt Schuhmacher die Neuwahl der Parteigremien anschieben will, erhält er Schreiben von Ortsverbänden, die darauf verweisen, dass die alten Vorstände doch noch im Amt seien. Es sind Vorstände, die 1932 gewählt wurden. Es gibt also lange Linien der Kontinuität, die die NS-Herrschaft überstehen. In der Literatur findet sich dafür der Begriff der "Gesinnungsgemeinschaften". Das ist sehr treffend, wie ich finde. Bleiben wir beim Beispiel Ückendorf. Der Stadtteil ist am Kriegsende zu über 80 Prozent zerstört. Die Infrastruktur funktioniert nicht mehr, an ein Telefon ist gar nicht zu denken. Wie kann man unter diesen Umständen eine Sitzung organisieren? Das geht nur, wenn man sich gut kennt und die Verbindung untereinander nie abgebrochen ist. Das ist kein sozialdemokratisches Spezifikum, das gibt es zum Beispiel auch im katholischen Lager. Es hatte ja auch seine kirchlichen Rückzugsräume, das erleichterte es, den Kontakt untereinander zu halten. So ist erklärlich, wie mit alten Köpfen zu neuen Zeiten aufgebrochen werden konnte.
Und die Gewerkschaften? Auch sie wurden ja von den Nationalsozialisten zerschlagen.
In den letzten Kriegswochen hat Hitler den so genannten Nero-Befehl ausgegeben. Überall dort, wo die Alliierten einmarschierten, sollte verbrannte Erde hinterlassen werden. Zechen und andere Industrieanlagen sollten gesprengt werden wie zum Beispiel die Zeche Nordstern. Es gelingt aber Teilen der Belegschaft, die Sprengtrupps davon abzuhalten. Die Zeche wird zwar außer Betrieb gesetzt, aber so, dass es nach dem Krieg relativ leicht ist, sie wieder anzufahren. Das heißt, es gibt Arbeitergruppen, die ihren Betrieb retten. Auch hier sind es Leute, die miteinander zu tun haben, die zusammenarbeiten. Dennoch ist es erstaunlich, wie schnell wieder gewerkschaftliche Strukturen entstanden sind. Deutlich wird es an einem Beitrag über den Industrieverband Bergbau, aus dem sich die heutige Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie entwickelt. Da heißt es, dass sich "unter dem Donner der Geschütze" am Ostersonntag 1945, am 1. April, rund zwölf Gewerkschafter trafen, um über Gewerkschaftsprobleme nach dem Zusammenbruch zu beraten. Etwa fünf Wochen vor Kriegsende gab es Zusammenkünfte, um sich auf die Zeit nach dem Krieg vorzubereiten. Auf der Zeche Nordstern wurden dann auch schon ab Mai 1945 wieder Gewerkschaftsbeiträge kassiert. Ende April kam eine Betriebsrätekonferenz mit 360 Delegierten von 56 Schachtanlagen zusammen. Das ist rund ein Drittel der Ruhrzechen.
Der nationalsozialistische Überwachungsapparat konnte nicht alles sehen. So war es möglich, dass der Kontakt innerhalb der angesprochenen Gesinnungsgemeinschaften nie ganz abriss.
Die Nationalsozialisten bedienten sich der Verwaltung, im ihre Politik durchzusetzen. Wie sah die Verwaltung nach 1945 aus?
Knapp über drei Viertel der städtischen Beamten waren Mitglieder der NSDAP. Von den Angestellten gehörten rund 44 Prozent der Partei an. Viele wurden bis Ende 1945 aus der Verwaltung entlassen, doch die Meisten kehrten nach und nach in die Verwaltung zurück. Es gab nur ganz, ganz wenige Fälle, bei denen es nicht so war. Bei der Polizei lässt sich dies besonders deutlich nachzeichnen. Oder nehmen wir das Gesundheitsamt. Allein zwischen Anfang 1934 und Mitte 1936 wurden 751 Menschen auf Geheiß des Gesundheitsamtes zwangssterilisiert. Dennoch arbeiteten die meisten Beamten und Angestellten auch des Gesundheitsamtes bis zu ihrer Pensionierung bzw. Rente in den Verwaltungen der Bundesrepublik Deutschland als Rechtsnachfolger des so genannten Dritten Reiches. Erst nach und nach wurden diese Kräfte durch nachrückende Generationen ersetzt, und es fand sozusagen eine Demokratisierung statt. Dieser Prozess erfolgte überwiegend erst in den 1960er Jahren und beschleunigt sich dann nach und nach.
Eine Frage zum Schluss, die mit Blick auf den Aufstieg der NSDAP immer wieder gestellt wird, aber auf die es wohl keine endgültige Antwort gibt: Welche Lehren kann man aus der Geschichte ziehen?
Lassen Sie mich noch etwas in der Nachkriegszeit bleiben, um beispielhaft zwei Leistungen zu würdigen, die die noch junge Demokratie stabilisiert haben. Da ist zum einen das, was wir heute als staatliche Daseinsvorsorge und Fürsorge bezeichnen wie zum Bespiel der Wohnungsbau durch städtische Wohnungsgesellschaften. Oder auch der Aufbau einer sozialen Infrastruktur wie zum Beispiel Kindergärten, auch oft in kollektiver Verantwortung gemeinsam mit Unternehmen. So bin ich zum Beispiel noch in einen Werkskindergarten gegangen.
Das heißt: Es gab ein System staatlicher, vor allem auch kommunaler und auch kollektiver Verantwortlichkeit für den Wiederaufbau. Zudem wurde die gewerkschaftliche Mitsprache geregelt und so die Auswüchse einer ungebremst kapitalistischen Entwicklung verhindert oder zumindest abgemildert. Allesamt Entwicklungen, die die demokratische Gesellschaft stabilisierten. Heute ist das alles brüchiger geworden, wie zum Beispiel die Privatisierungen im Wohnungsbereich zeigen.
Angesichts dieser Entwicklungen und der Tatsache, dass gerade einmal gut 42 Prozent eine gültige Stimme bei der letzten Kommunalwahl abgegeben haben, stellt sich die Frage, wie es um das demokratische Bewusstsein in unserer Stadtgesellschaft bestellt ist. Etwa zehn Prozent derer, die gewählt haben, gaben ihre Stimme einer Partei im rechten antidemokratischen Spektrum. Wir wissen nicht, was die fast 60 Prozent denken, die nicht zur Wahl gegangen sind und wen sie wählen würden, wenn sie es denn täten. Wir haben derzeit nur ein Drittel aller in Gelsenkirchen Stimmberechtigten, die bei der Kommunalwahl für eine demokratische Partei votierten. Das ist sehr wenig. Wenn man etwas aus der Historie lernen will, dann das: Wir haben zu wenig demokratisches Engagement, deshalb muss es wieder aufgebaut und das vorhandene Engagement gestärkt werden. Da können uns die alten Köpfe, die die Demokratie nach dem Zweiten Weltkrieg wiederaufgebaut haben, ein Vorbild sein.