09. November 2008, 10:55 Uhr | Stadt Gelsenkirchen
Sehr geehrte Damen und Herren!
„Am Sonntag, 13. November 1938, fuhren wir nach Leipzig zu Trude Öhlmann. Ob sie unsern Kater Mujel übernehmen könne? - Nein, er würde sich doch nicht umgewöhnen, ihn töten lassen sei humaner. Sie erzählte, wie in Leipzig die SA angetreten sei, Benzin in die Synagoge und ein jüdisches Warenhaus gegossen habe, wie die Feuerwehr nur die umliegenden Gebäude schützen durfte, den Brand aber nicht zu bekämpfen hatte, wie man dann den Warenhausbesitzer als Brandstifter und Versicherungsbetrüger verhaftete."
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
diese Erinnerungen stammen aus den Tagebüchern von Victor Klemperer. So wie der jüdische Schriftsteller den Abend des 9. November 1938 schildert, haben sich in ganz Deutschland gewaltsame Übergriffe auf Juden zugetragen. Ungerechtigkeiten, nein, Verbrechen, die man sich heute kaum vorstellen kann, haben sich dabei auch hier bei uns in Gelsenkirchen ereignet.
Heute vor ganz genau 70 Jahren wurden jüdische Frauen und Männer misshandelt und ermordet, ihre Wohnungen und Geschäfte geplündert und zerstört.
Unter der Propagandistischen Bezeichnung „Reichskristallnacht" ging dieser Tag in die Geschichte ein. Sieben Jahrzehnte ist das nun her. Eine lange Zeit. Jeden Tag gibt es weniger Menschen, die sich als Zeitzeugen an dieses rabenschwarze Kapitel in der deutschen Geschichte erinnern. Wer heute jünger ist als 70 Jahre, hat den Weltkrieg und die Pogrome kaum bewusst miterlebt. Die „Gnade der späten Geburt" genießt die Nachkriegsgeneration. Doch heißt das, dass wir demnächst aufhören dürfen uns und andere an den 9. November 1938 zu erinnern?
Ich sage: Nein! Denn Unrecht verjährt nie!
Doch wie sollen, wie können wir uns 70 Jahre nach den Gräueln vom 9. November 1938 erinnern, während die Erinnerung bei den Zeitzeugen verblasst und sich jede nachkommende Generation weiter von ihr weg fühlt? Der Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Professor Dr. Salomon Korn, hat zu dieser Frage einmal festgestellt, dass man dafür den Informationsanteil der Erinnerung vom Affekt, also dem Gefühlsanteil, trennen müsse. „Weil Identifizierung qua Definition nur mit positiven Inhalten möglich ist."
Die negativen Gefühle, die sich bei der Befassung mit dem Holocaust breit machten, verstärkten dagegen die „Neigung, die mit ihnen verknüpften Erinnerungen abzuwehren, zu beschönigen, zu verdrängen und schließlich zu leugnen", so Korns Befürchtung.
Gefühl und Information lassen sich schwierig trennen
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
so nüchtern sich diese Analyse anhört, so schwierig lässt sie sich in die Tat umsetzen. Gefühl und Information zu trennen, ist angesichts der Dimension der Verbrechen kaum möglich. Oder wie lässt sich die eingangs zitierte Erinnerung Victor Klemperers derart auf pure Information reduzieren, dass sich kein Mitgefühl und kein Schuldbewusstsein im Zuhörer Bahn bricht?
Aus meiner Sicht bedarf es im Gegenteil sogar des Affekts. Denn er vermag es, eine Unmittelbarkeit herzustellen bei denjenigen Generationen, die nicht selbst dabei waren. Dafür erleben Sie heute ein sehr gutes Beispiel: Nehmen Sie nur die gemeinsame Aktion der Kirchengemeinden in unserer Stadt. Von allen Türmen läuten die Glocken zur vorher vereinbarten Stunde. Gemeinsam mit tausenden anderen in Deutschland, Österreich und vielen anderen europäischen Staaten. Die ganze Nacht über sind die Synagogen und Kirchen angestrahlt und mahnen.
Kirchenglocken, ungewöhnliche Beleuchtung: Das löst in uns einen Affekt aus, der Grundlage ist für den Impuls, uns kritisch mit den Pogromen und dem Völkermord an den europäischen Juden auseinanderzusetzen. Dabei hilft auch, dass wir das gesichtlose Schicksal Hunderttausender in die Lebensgeschichte einzelner Menschen übersetzen.
Einer dieser Menschen, dessen Leben durch die Pogromnacht aus der Bahn geworfen wurde, ist Ernst Ludwig Back. Er hatte gerade erst seinen 15. Geburtstag gefeiert, als in Gelsenkirchen die Synagogen brannten. Seine Eltern konnten nicht glauben, was da geschah und verpassten es, rechtzeitig aus Deutschland zu fliehen. Nur ihre drei Kinder, unter ihnen der kleine Ernst Ludwig, schickten sie ins rettende Ausland. Vater Moritz Back starb am 20. Dezember 1942 in Theresienstadt. Seine Frau Paula wurde am 29. März 1943 in Auschwitz ermordet. Der Tod dieser beiden Menschen ist nur ein Beispiel für das Schicksal von insgesamt 492 Opfern der Deportationen von Juden aus Gelsenkirchen.
Damit sie nie in Vergessenheit geraten, ist unter Mitwirkung von Schülerinnen und Schülern des Berufskollegs für Technik und Gestaltung eine Gedenkwand entstanden, vor der wir stehen und die heute erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt wird. Auf ihr erinnern wir an die 492 Männer und Frauen und an ihre Schicksale. Moritz und Paula Back sind zwei von ihnen. Mit uns zusammen trauert heute auch ihr Sohn Ernst Back, der nach langen Jahren zum ersten Mal wieder in Gelsenkirchen ist. Stellvertretend für die vielen Opfer des Nationalsozialismus' in unserer Stadt bitte ich Sie, sehr geehrter Herr Back, heute um Vergebung für das Ihnen und Ihrer Familie angetane Leid!
Jüdische Gemeinde fester Bestandteil des öffentlichen Lebens
Meine Damen und Herren,
in der Aufarbeitung unserer Geschichte sind wir zugegebenermaßen in den vergangenen 70 Jahren ein gehöriges Stück weiter gekommen. Dass wir heute im Innenhof der neuen jüdischen Synagoge stehen können, ist ein solcher Fortschritt. Die jüdische Gemeinde ist heute wieder fester Bestandteil des öffentlichen Lebens unserer Stadt. Mit dem nun in greifbare Nähe gerückten Umbau der Alten Synagoge zur Ausstellungs- und Begegnungsstätte wird dieser Prozess noch weiter voranschreiten.
Diese äußere Entwicklung können wir alle auch in unserer Alltagswelt befördern. Denn nicht nur bei der Erinnerung an den Holocaust wünscht sich Salomon Korn vom Zentralrat der Juden in Deutschland, dass die Betroffenen endlich als Angehörige des eigenen Volkes angesehen werden sollten.
Sie „nämlich als Deutsche zu betrachten - nicht nur verbal als »jüdische Deutsche« oder »deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens«, sondern - bei aller Differenz - schlicht als Deutsche, die auch Juden waren."
So vermag allein die Sprache zu urteilen und zu richten, auszugrenzen oder einzubinden. Die ganze Sprache der Nationalsozialisten folgte diesem Prinzip. Nicht von ungefähr liegt in der Bezeichnung „Reichskristallnacht" etwas Schillerndes, was man bei nüchterner Betrachtung nicht zu erkennen vermag.
"Worte können sein wie winzige Arsendosen: Sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da", notierte dazu Victor Klemperer. Sein Wörterbuch der Unmenschen gibt Auskunft darüber und wir sollten uns auch heute noch davor hüten, andere Menschen mit dem, was wir sagen, zu verletzen und auszugrenzen.
Denn bei allem Positiven, was wir bislang erreicht haben, dürfen wir doch nicht nachlassen, uns und andere zu erinnern. Die Verfolgung und Ermordung einer ganzen Gemeinschaft darf sich in Deutschland und in der Welt nie wiederholen. Deshalb müssen wir alle ganz genau hinschauen, wenn wieder Neonazis in unseren Innenstädten marschieren wollen. Hier in Gelsenkirchen genauso wie in unseren Nachbarstädten, in Nordrhein-Westfalen und in ganz Deutschland.
Dann müssen wir denen die Stirn bieten und laut „Nein" sagen. Denn das ist doch die eigentliche Lehre, die wir aus dem 9. November 1939 ziehen sollten: Wehret den Anfängen!