09. November 2010, 12:58 Uhr | Stadt Gelsenkirchen
Sehr geehrter Herr Professor Brakelmann,
meine Damen und Herren,
wir haben uns heute hier versammelt, um 72 Jahre nach der Pogromnacht vom 9. November 1938 an dieses ungeheure Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu erinnern. Über 70 Jahre: Das ist statistisch gesehen ein ganzes Menschenleben. Trotzdem sorgen wir dafür, die Erinnerung wach zu halten.
Denn auch wenn es sieben Jahrzehnte her ist, dass in Deutschland und in Gelsenkirchen Synagogen brannten, jüdische Wohnungen und Geschäfte verwüstet worden sind und Menschen geschlagen, gequält und deportiert wurden, gibt es für diese Ungerechtigkeit keinen Punkt des Vergessens. Im Gegenteil erinnern wir in Gelsenkirchen ganz bewusst jedes Jahr an diesen traurigen Jahrestag. Nicht, um 65 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges Schuldfragen zu stellen. Über diesen Punkt der Geschichte sind wir hinweg. Heute muss es vielmehr darum gehen, dass sich Geschichte nicht wiederholt. Denn dumm ist, wer aus der Geschichte nichts lernt.
Verbrechen aus heutiger Sicht kaum vorstellbar
Oder, noch schlimmer, nichts lernen will. Wer heute andere Menschen ausgrenzt und beschimpft oder sogar Gewalt anwendet, der hat tatsächlich nichts aus dem gelernt, was am 9. November 1938 auch in Gelsenkirchen passiert ist.
Die Verbrechen, die scheinbar ganz normale Bürgerinnen und Bürger an ihren jüdischen Nachbarn begingen, sind aus heutiger Sicht kaum vorstellbar. Nachvollziehbar schon gar nicht. Mitglieder der SA und SS drangen gewaltsam ein in die Gelsenkirchener Synagogen. Dort legten sie Feuer. Die herbeigerufenen Rettungskräfte verhielten sich, wie es sich keiner von uns heute vorstellen mag.
Ein Augenzeuge erinnerte sich so: „Die Polizei sperrte den Straßenverkehr ab, Feuerwehrleute hielten den Schlauch mit der Spritze in der Hand, aus der aber kein Wasser herauskam, und ließen die Synagoge in Buer bis auf die Grundmauern abbrennen. SA-Leute liefen vereinzelt und verstohlen umher und riefen »Weitergehen, weitergehen…!«“
Das alles passierte nicht irgendwo weit weg, sondern in den Straßen Gelsenkirchens. An Orten, die wir bis heute alle gut kennen. Zum Beispiel in den Einkaufsstraßen der Stadt. So berichtet ein Augenzeuge von einem „Teppich aus Glassplittern“ auf der Hochstraße in Buer.
Solche unmittelbaren Schilderungen sind es, die das Grauen wach halten. Jeder Mensch, der auch nur etwas Empathie empfindet, wird sich aufgrund der menschlichen Tragödien, die sich in der Nacht vom 8. auf den 9. November ereignet haben, fragen: Wie konnte so etwas nur passieren? Und genau diese Frage dürfen wir nicht aufhören, uns zu stellen. Nur dann haben wir etwas aus der Geschichte und für unsere Zukunft gelernt.
Erinnern und nicht vergessen
Meine Damen und Herren,
unter dem Titel „Bunt statt Braun“ haben auch die Gelsenkirchener Falken Anfang November in einem ihrer Jugendheime eine Projektwoche veranstaltet. In deren Verlauf haben Jugendliche sich mit der Pogromnacht vom 9. November 1938 auseinandergesetzt. Einen kleinen Ausschnitt der Arbeitsergebnisse können Sie heute hier vorne und im Hintergrund der Bühne sehen. In einem Workshop wurden u.a. Papiertüten gestaltet, die von innen mit einer Kerze ausgeleuchtet werden und damit eine Botschaft lesbar machen, in gewisser Weise aber auch ein Licht in dunkler Nacht entzünden. Zudem haben wir stellvertretend für zahlreiche weitere gelungene Arbeiten zwei Banner ausgewählt, die sich ebenfalls mit der Erinnerung an den 9. November befassen.
Erinnern und nicht vergessen, das ist nicht nur unser Anspruch, sondern auch der unseres Gastredners.Ich freue mich, dass wir Herrn Professor Dr. Günter Brakelmann für den heutigen Tag gewinnen konnten. Auch ihm liegt am Herzen, dass wir immer wieder neu reflektieren, was unsere Vergangenheit war, und was folglich unsere Zukunft ist. Dazu hat der evangelische Theologe, der zudem Sozialwissenschaften und Geschichtswissenschaften studiert hat, am Lehrstuhl für Christliche Gesellschaftslehre an der Ruhr-Universität Bochum geforscht. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Geschichte des Antisemitismus und der Geschichte des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus.
Insofern freue ich mich auf Ihren Beitrag, sehr geehrter Herr Professor Brakelmann, und bedanke mich bei Ihnen allen, dass Sie mit Ihrer Anwesenheit auch im 72. Jahr nach der Reichspogromnacht ein deutliches Zeichen setzen. Dafür vielen Dank und ein herzliches Glückauf!