09. Oktober 2011, 11:31 Uhr | Stadt Gelsenkirchen
Sehr geehrte Frau Neuwald-Tasbach,
sehr geehrte Frau Neuwald-Golling,
sehr geehrter Herr Dr. Graumann,
sehr geehrter Herr Fehr,
meine sehr geehrten Damen und Herren,
haben Sie vielen Dank für Ihre Einladung zum Neujahrsempfang der Jüdischen Gemeinde, die mir Gelegenheit gibt, Ihnen die besten Wünsche zum Neujahrsfest Rosh HaShana [sprich: Rosch-Ha-Scha-na] aussprechen. Möge das nach dem jüdischen Kalender vor wenigen Tagen begonnene Jahr 5.772 ein gutes für Sie werden!
Die zurückliegenden Jahre jedenfalls - das glaube ich, sagen zu dürfen - waren für die Jüdische Gemeinde Gelsenkirchen gute und erfreuliche Jahre. Die Zahl der Mitglieder hat ein Niveau erreicht, an das über Jahrzehnte nicht zu denken war. Der Bau der Neuen Synagoge hat die Gemeinde wieder zurück an den Ort der ersten Gelsenkirchener Synagoge geführt. Das Gemeindeleben spielt sich seitdem in diesem schönen Gebäude im Herzen der Stadt ab, das mit einem würdigen Gebetsraum ausgestattet ist, in dem sich aber auch dieser lichte und freundliche Gemeindesaal befindet, in dem wir uns jetzt aufhalten. Ein Raum zum Studium, zum Feiern, für Begegnungen. Ein Gemeindesaal, in dem man gerne zusammenkommt.
Diesen Saal nun wollen wir heute nach Kurt Neuwald benennen. Damit wollen wir einen Menschen ehren, ohne den es diese Synagoge kaum gäbe. Einen Mann, der miterleben musste, wie die erste Synagoge an dieser Stelle im Novemberpogrom des Jahres 1938 in Brand gesteckt und zerstört wurde, und der durch seine unermüdliche Arbeit überhaupt erst möglich gemacht hat, dass hier wieder ein jüdisches Gemeinde- und Gotteshaus entstehen konnte. Und der sich ganz sicher sehr gefreut hätte, wenn er dieses Haus noch hätte sehen können.
Ein besonderer Lebensweg
Viele von Ihnen werden Kurt Neuwald gekannt haben. Dennoch möchte ich einige Worte zu seinem besonderen Lebensweg sagen: Er kam 1906 als Sohn einer alteingesessenen Gelsenkirchener Familie zur Welt. Sein Großvater hatte in der Arminstraße ein Betten-Spezialgeschäft eröffnet, das später an den Sohn, dann an den Enkel ging. Jüdisches Leben war zur Jugendzeit Kurt Neuwalds ein selbstverständlicher Teil des städtischen Lebens in Gelsenkirchen. Ab 1933 änderte sich das rasch und in einem erschreckenden Ausmaß. Während der Pogrome im November 1938 wurde auch das Geschäft der Familie Neuwald verwüstet, nach weiteren Entrechtungen und Ausplünderungen wurden schließlich Vater und Mutter, Onkel und Tanten, Brüder und Schwestern wie auch Kurt Neuwald selbst und seine Frau verschleppt. Von 26 Mitgliedern der Familie Neuwald wurden in diesen Jahren 24 ermordet. Nur Kurt und sein Bruder Ernst haben überlebt.
Im April 1945 wurde Kurt Neuwald von den Amerikanern aus einem Außenlager des KZ Buchenwald befreit. Nach der Befreiung tat er etwas, was wir uns nur sehr schwer vorstellen können – und was mich bis heute sehr bewegt: Er kehrte in seine Heimatstadt zurück.
Zurück in die Stadt, die ihm und seiner Familie all das angetan hatte – denn die Gelsenkirchener haben ihn ja nicht wirklich geschützt, etliche haben sich an der Verfolgung ihrer jüdischen Mitbürger beteiligt, jeder konnte ihre zunehmende Entrechtung mitbekommen, die Deportation geschah nicht im Geheimen.
Er kehrte zurück und blieb hier, sein Leben lang.
Kurt Neuwald kehrte zurück, weil er einfach nicht akzeptierte, dass ihm die Nazis und ihre Helfer die Heimat raubten. Er hat Gelsenkirchen nicht den Tätern überlassen wollen. Er eignete sich die Stadt, in der er aufgewachsen ist, wieder an: sich selbst, seiner Familie, den Menschen seines Glaubens, den Menschen, die Achtung vor anderen haben, egal welchem Glauben sie anhängen oder wo sie herkommen. Für diese Entscheidung und für dieses Zeichen sind wir nach 1945 Geborenen ihm sehr dankbar.
Wieder in Gelsenkirchen, dachte Neuwald sofort an seine Mitmenschen. Er half den aus den Lagern zurückkehrenden Menschen. Er kümmerte sich um die Wiederbelebung des jüdischen Lebens, mit anderen Überlebenden gründete er ein Hilfskomitee, aus dem schließlich die Jüdische Kultusgemeinde Gelsenkirchen hervorging. Man kann sagen, dass Kurt Neuwald ganz entscheidend eine Verbindung herstellte zwischen dem jüdischen Leben vor 1933 und dem nach der Befreiung. Er hat wesentlich für den Fortgang des jüdischen Lebens in Gelsenkirchen gesorgt und allein dadurch Unschätzbares für unser Gemeinwesen geleistet.
Ein Mensch, dem Versöhnung am Herzen lag
Dass er zudem Mitbegründer und langjähriger Vorsitzender des Landesverbands der jüdischen Kultusgemeinden war und ebenfalls Mitbegründer des Zentralrates der Juden in Deutschland - all diese Verdienste kennen Sie hier in diesem Kreis vermutlich besser als ich. Die Stadt Gelsenkirchen hat ihn mit gutem Grund zu ihrem Ehrenbürger ernannt und für das Bundesverdienstkreuz vorgeschlagen. Als es zur Ordensverleihung kam, schrieb ihm Johannes Rau: „Sie haben wie kaum ein anderer diese Auszeichnung verdient“.
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
durch diese Wochen zieht sich ein Bogen großer jüdischer Festtage. Er begann vor zehn Tagen mit dem Neujahrsfest Rosh HaShana und setzt sich fort bis zum Laubhüttenfest Sukkot. Dazwischen liegt Jom Kippur, das Versöhnungsfest, das gestern begangen wurde.
Ich empfinde es als eine schöne Terminwahl, dass wir uns einen Tag nach dem Versöhnungsfest an Kurt Neuwald erinnern - denn Kurt Neuwald war ein Mensch, dem Versöhnung am Herzen lag und der sein ganzes Leben der Versöhnung gewidmet hat. Er vermochte es, was sich viele lange nicht vorstellen konnten: seinen jüdischen Glauben und seine jüdische Identität mit einem Leben in Deutschland zu vereinbaren. Und er vermochte es, durch sein Leben und sein Engagement in Gelsenkirchen ein Zeichen der Versöhnung mit seiner Heimatstadt zu geben.
Der Name des Saals und die hier angebrachte Tafel werden das Gedächtnis an ihn und an sein Wirken bewahren. Diese Tafel wird von Menschen gelesen werden, die heute noch nicht geboren sind und die möglicherweise erst über diese Inschrift auf die Idee gebracht werden, mehr über Kurt Neuwald und sein besonderes Leben erfahren zu wollen. Ich wünsche Ihnen allen, dass diese Synagoge, dieser Saal weiterhin ein lebendiger Ort sein wird – weil mich das für Sie freuen würde, aber auch weil sich Kurt Neuwald nichts sehnlicher gewünscht hat als eine lebendige Jüdische Gemeinde in seiner Stadt.