21. Oktober 2012, 14:47 Uhr | Stadt Gelsenkirchen
- Es gilt das gesprochene Wort -
Sehr geehrter Herr Rohmann,
meine sehr geehrten Herren,
haben Sie vielen Dank für die Gelegenheit, mich heute Vormittag gemeinsam mit Ihnen einem Thema zu widmen, das ohne Frage ein wichtiges ist – mit dem Zusammenhang von Politik und Moral. Sie haben für diese Veranstaltung einen sehr pointierten Titel gewählt, der mich als Politiker natürlich hellhörig macht: „Politik und Moral – Zwei Welten begegnen sich“. Damit stellen Sie ja ziemlich unverblümt die These in den Raum, dass die Welt der Politik getrennt ist von der Welt der Moral. Dass Moral in der Politik gar nicht vorkommt. Dass Politikerinnen und Politiker im besten Fall ein sehr loses Verhältnis zu Moral haben – und umgekehrt jemand, der moralisch unbeschadet durch Leben gehen will, sich fern von der Politik halten sollte.
Diese Haltung ist, da will ich mir nichts vormachen, weit verbreitet. Uns allen ist das Ressentiment geläufig, dass Politik ein schmutziges Geschäft ist, und es gibt leider auch Beispiele, die das zu bestätigen scheinen. Wobei die Art, wie über Politik berichtet wird – mit einem starken Hang zur Personalisierung, mit viel Lust am Skandal – auch ihren Beitrag dazu leistet, dass diese Sichtweise so eingängig ist.
Ich könnte nun dagegen halten, dass das Gegenteil ebenso wahr ist. Aus meinen Erfahrungen kann ich Ihnen mitteilen, dass ethische Erwägungen in der Politik durchaus eine Rolle spielen; oft sogar eine sehr große. Die meisten Politikerinnen und Politiker handeln so, dass sie am nächsten Morgen problemlos in den Spiegel schauen können. Vielleicht sitzen in den Parteien und Parlamenten keine Heiligen – aber mein Eindruck ist doch, dass Politikerinnen und Politiker nicht moralischer oder unmoralischer agieren als der Bevölkerungsschnitt.
All das ließe sich mit Anekdoten illustrieren und ausschmücken. Doch ich denke, unser heutiges Thema ist es wert, dass wir über Einzelfälle hinausgehen.
Wir wollen keine Politik ohne Moral
Ich möchte darum Ihre Einladung und die These, die Sie vorgelegt haben, als Anlass zur Reflexion nehmen – um ein wenig über diese beiden Welten, die der Politik und die der Moral, und über ihre Verbindung nachzudenken.
Wir wollen, darüber werden wir uns vermutlich schnell einig, keine Politik ohne Moral. Umgekehrt wissen wir auch, dass moralische Maßstäbe und Wertvorstellungen ohne die Hilfe von Politik nur schwerlich durchsetzbar sein würden. Bei allen Widersprüchen ist die Verleihung des Friedensnobelpreises an die EU ein gutes Beispiel. Aber gibt es das überhaupt – eine Welt ohne Moral? Eine Welt ohne verbindende Normen? Manchmal mag uns das so vorkommen, gerade in Phasen des gesellschaftlichen Umbruchs. Dennoch würde ich sagen: Das erscheint uns nur so, wenn wir die moralischen Vorstellungen des oder der Anderen nicht verstehen, nicht zu fassen bekommen. Wenn bestimmte Normen, die wir für allgemeingültig halten, an Kraft verloren haben. Sobald wir das wahrnehmen, ist rasch die Rede vom Wertverfall, vom Verlust an Moral. Eine Klage, die unserer Neigung geschuldet ist, unsere eignen Werte und die unseres sozialen Umfelds für zeitlos und allgemeingültig zu halten. Dabei entstehen in einer sich wandelnden Welt auch immer neue Werte.
Junge Menschen handeln sehr wohl moralisch – möglicherweise aber nach anderen Maßstäben als die älteren Generationen.
Werte, das ist meine Überzeugung, sind immer da. Jeder Mensch hat eine Vorstellung davon, was richtig und falsch ist; was man tun sollte oder zumindest darf; was man nicht macht oder gar unbedingt unterlassen sollte. Auch wenn er oder sie diese Werte nicht benennen kann. Und sogar, wenn er oder sie gelegentlich gegen diese Werte verstößt. Wir verinnerlichen Werte durch Lebenserfahrungen. Durch Vorbilder und Bestätigung, durch Zuwendung wie Zurückweisung, durch Zuneigung wie durch Anlässe zur Empörung. Werte entstehen nicht, indem man einen Kodex auswendig lernt, sondern durch verinnerlichte Erfahrungen.
Die Welt der Politik moralisch und menschlich gestalten
Zugleich gibt es, das ist zumindest meine Wahrnehmung, eine große Schnittmenge zwischen den Werten von Menschen, selbst wenn sie sich auf unterschiedliche Kodizes beziehen.
Was Sie als „christliche Nächstenliebe“ bezeichnen, das nenne ich womöglich „Solidarität“.
Es ist vielleicht nicht identisch; aber weit voneinander entfernt ist es auch nicht. Gemeinsam ist ihnen ganz sicher ein gewisser Kern – der Imperativ, einen anderen Menschen niemals als Mittel zu einem Zweck, sondern als Zweck seiner selbst zu verstehen. Ihm oder ihr gegenüber nichts zu tun, was man nicht selbst erleiden möchte. Und ganz sicher: Die Verpflichtung, einander beizustehen.
Diese Verwandtschaft gilt leider nicht für alle Werte. Denken wir an jene Moral, über die ich mich häufiger ärgere – und die sich in den vergangenen Jahren in den Zentren der Finanzwelt ausgebreitet hat: Eine Moral, die darin besteht, dass man möglichst rasch möglichst viel Geld verdienen will und soll, selbst wenn es zulasten Dritter geht. Zulasten kleiner Anleger, zulasten der Beschäftigten von Unternehmen, die von Finanzinvestoren gekauft, zerlegt und wiederverkauft werden. Zulasten von Menschen, die eben nur ein Mittel zum Zweck des eigenen Bereicherns sind.
Diese fragwürdige Moral lebt von der Vorstellung, man könne ein guter Familienmensch sein, ein guter Freund, eine gute Freundin – auch wenn man in der Welt der Wirtschaft etwas eben ruppiger auftritt. Etliche Ökonomen rechtfertigen eine solche Moral oder stiften sogar dazu an, indem sie sagen: Die einzige gesellschaftliche Verantwortung, die Unternehmen haben, ist Gewinne zu erzielen.
Wir alle nehmen in unserem Alltag unterschiedliche Rollen ein, im Beruf, als Privatperson. Aber wir sollten nicht für jede Rolle eine unterschiedliche Moral heranziehen. Ich halte eine Aufteilung unserer Welt in Bereiche, in denen wir allein dem Erfolg verpflichtet sind, und Bereiche, in denen wir menschlich auftreten dürfen, für keine gute Idee. Entsprechend möchte ich auch die Welt der Politik nicht als amoralische Zone verstehen oder dazu einladen, die Politik so zu sehen.
Wir haben vielmehr die Aufgabe, die Welt der Politik moralisch und menschlich zu gestalten, ebenso wie wir die Aufgabe haben, die Welt der Wirtschaft menschlich und moralisch zu gestalten.
Eine Moral, die Rücksicht aufeinander nimmt
Wir können diese beiden Sphären nicht aus unserem Leben herauszulösen, auch wenn uns das die Rede von der zunehmenden Komplexität der modernen Gesellschaft nahelegt, die Rede von der Ausdifferenzierung in unterschiedliche Teilbereiche, die nach jeweils eigenen und unübersetzbaren Regeln funktionieren. Im Gegenteil: Es ist ja die Aufgabe der Politik, dafür zu sorgen, dass wir, dass der Einzelne in seinem Leben möglichst immer nach moralischen Maßstäben handeln kann – nach einer Moral, die Rücksicht aufeinander nimmt.
Und wenn wir daran arbeiten, dann müssen wir uns mit andern abstimmen, dann müssen wir für gute Ideen auch Mehrheiten finden, Mehrheiten in der Bevölkerung und in den Gremien und Parlamenten. Dann müssen wir Kompromisse eingehen. Es ist schwierig bis unmöglich, in der Politik seine Vorstellungen und seine persönliche Moral eins zu eins umzusetzen. Von diesem Wunsch – von dem, was Max Weber „Gesinnungsethik“ genannt hat – muss man sich zumindest zu einem guten Stück verabschieden, wenn man in einer pluralistischen Gesellschaft etwas politisch bewegen möchte.
Wovon ich mich aber auf keinen Fall verabschieden möchte, das ist das Gegenstück in Webers Dichotomie, das ist die „Verantwortungsethik“. Das ist die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, um vielleicht nicht das Beste überhaupt zu erreichen, aber doch das Bestmögliche zu erreichen. Ich bin mir sicher, dass sich das lohnt.
Sie mögen also fragen: Muss die Politik moralischer werden? Da würde ich antworten: Ganz sicher tut ihr das in vielen Momenten gut. Man kann aber auch anders herum fragen: Muss unsere Moral politischer werden? Und da würde ich sagen: Unbedingt! Eine Privatmoral gibt es nicht. Moral ist etwas Gesellschaftliches und hat Ermöglichungsbedingungen, ein Klima, das sie braucht, damit sie sich entfalten kann.
Daran zu arbeiten ist unser aller beständige Aufgabe.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit und Glück auf!