„Gelsenkirchen ist mein Hafen, das Ruhrgebiet meine Heimat“
Schalkes Eurofighter Mike Büskens im Interview
05. April 2017, 11:13 Uhr | Stadt Gelsenkirchen
Mike Büskens vor der Baustelle des Parkstadions, wo Schalke 04 bis zur Saison 2000/2001 seine Heimspiele bestritt. Bildrechte: Caroline Seidel
Mike Büskens gewann mit Schalke 04 1997 den UEFA-Cup. Seit fast 25 Jahren lebt der Eurofighter in Gelsenkirchen. Im Interview spricht er natürlich über Fußball, aber auch über die Stadt, das Ruhrgebiet und die Menschen, die hier leben.
Erinnern Sie sich noch an den 19. November 1996?
Ja, da kann es ja nur darum gehen, dass ich da mal getroffen habe. Es war unglaublich kalt und nass, der Rasen mehr weiß als grün.
Es war nicht irgendein Tor, sondern der Treffer zum Ausgleich in Brügge. Das Fußballmagazin 11 Freunde titelte „Das Werk eines Wahnsinnigen".
Wahnsinnig kalt war es vor allen Dingen. Nein, es ist schon so, dass mich dieser Treffer bis zum letzten Tag begleiten wird, so wie die gesamte Zeit mit den Eurofightern. Ich bin froh darüber, diesen Moment erlebt zu haben. Wir sind alle stolz, dass wir diese Zeit bei Schalke 04 so geprägt haben.
Ja, das Tor an sich. Ich weiß noch, wie ich in der Halbzeit gefroren habe. Selten habe ich so gefroren. Das Trikot war klatschnass, und ich hätte es natürlich wechseln können. Aber ich bin sehr abergläubisch und da wir eine gute erste Halbzeit gespielt haben, habe ich es anbehalten. Na ja, und dann hat Thöni glücklicherweise den Elfmeter verschossen.
Glücklicherweise?
So ehrlich muss ich ja sein. Wäre der Elfer drin gewesen, dann würden wir jetzt nicht über mein Tor reden. Es kam so viel zusammen. Der Torhüter Verlinden kann den Elfmeter nicht festhalten, und sein Mitspieler gibt ihm nicht die Gelegenheit nachzufassen, sondern schlägt den Ball zur Ecke. Dann schießt Thöni die Ecke, und der Ball wird so rausgeschlagen, dass er mir genau vor die Füße fällt. Es kamen also viele Zufälle zusammen.
Es war sehr riskant, den Ball volley zu nehmen. Der hätte auch auf der Tribüne landen können, statt im Tor.
Stimmt, aber ich habe ja nicht viele Tore geschossen während meiner Karriere. Die wenigsten davon aus der Nahdistanz, also schießen konnte ich schon ein bisschen. Im schlimmsten Fall geht so ein Ding ins Toraus. Dann gibt es Abschlag, und wir können uns neu formieren. Ja, dann nimmst du so einen Ball halt und schießt drauf. Gut dass Thöni den Elfer an dem Tag nicht gemacht hat, dafür aber im Finale. Es sollte alles so sein.
Ja, dann nimmst du so einen Ball halt und schießt drauf.
Nimmt man das alles während des Spiels eigentlich wahr?
Den Moment, in dem es einschlägt, den nimmt man schon wahr. Und dann muss es raus. Die Emotionen, der Stress, unter dem man steht. Das dauert so 20, 30 Sekunden, dann ist man wieder fokussiert und auf das Spiel konzentriert, aber in diesen 20, 30 Sekunden, in denen passieren die unkontrollierten Dinge. So habe ich mir auch meine aktuelle Meniskusverletzung geholt, als Trainer von Rapid Wien beim Jubeln nach einem Tor. Kann passieren ...
Bald liegt dieser große Triumph 20 Jahre zurück, aber es weckt immer noch starke Emotionen bei den Fans und auch bei Ihnen.
Ja, natürlich. Es ist etwas, was mir immer in Erinnerung bleiben wird. Das hat uns auch als Mannschaft zusammengeschweißt. Es ist etwas, das uns immer verbinden wird. Nach 19 Jahren ist Schalke wieder international dabei, dabei hatten wir zuvor ja nicht nur rosige Zeiten. Runde für Runde hat sich das dann hochgeschaukelt. Das war schon eine besondere Erfahrung.
Rudi Assauer soll gesagt haben, dass Einstellung Klasse schlagen würde. Ist das so?
Es kann so sein, ja. Wenn alles nur Talent und individuelle Klasse wäre, dann wäre es ja einfach. Aber gerade wenn man nicht das überragende Talent hat, dann muss man hart arbeiten und braucht ein Stück dieses schon angesprochenen Wahnsinns. Deshalb gibt es ja immer wieder Überraschungen wie zum Beispiel im DFB-Pokal, oder eine Mannschaft wie Leicester City gewinnt die Meisterschaft in England. Das ist es doch auch, was den Fußball ausmacht. Schauen wir doch nochmal auf 1997. Wir haben den belgischen Meister ausgeschaltet, der viel mehr internationale Erfahrung hatte, bestehen gegen Trabszon in einer sehr hitzigen Atmosphäre. Das war alles andere als einfach, aber am Ende hat es dann ja auch gegen das übermächtig scheinende Inter Mailand geklappt.
Gab es irgendwann mal den Moment, wo ihr euch als Mannschaft gesagt habt, jetzt können wir es packen?
Es waren so viele enge Spiele dabei. Wie gesagt, es hat sich hochgeschaukelt. Ja, vielleicht war das Halbfinale so ein Spiel ab dem wir uns gesagt haben, jetzt sind wir auf Augenhöhe. Wir sind so weit gekommen, womit niemand vorher gerechnet hatte, jetzt können wir es bis in das Finale schaffen und es auch gewinnen.
Ist einem Spieler eigentlich bewusst, welche Bedeutung der Fußballverein Schalke 04 für die Menschen und für die Stadt Gelsenkirchen hat?
Ich lebe seit 1992 in der Stadt und habe das sehr früh gespürt, welche Bedeutung hier der Fußball hat. An mein erstes Derby am 22. August 1992 kann ich mich noch sehr gut erinnern. Wir gewinnen auswärts mit 2:0. Ich bin ja aus Düsseldorf gekommen, wo Fußball eine eher untergeordnete Rolle spielte. Ich habe mir damals die Augen gerieben und mich gefragt, was hier eigentlich abgeht an Fußballbegeisterung, um nicht zu sagen Besessenheit. Das kannte ich so nicht. Damals habe ich ja sogar noch im Stadtteil Schalke gewohnt und konnte hautnah erleben, wie die Menschen diesen Auswärtssieg gefeiert haben. Wenn ich mich daran erinnere, wie viele Fans uns bei den Auswärtsspielen bei unserer Reise quer durch Europa 1996/97 begleitet haben, dann bekomme ich heute noch Gänsehaut. Wenn du vorher nicht gewusst hast, welche Bedeutung der Fußball in dieser Stadt hat, dann wusstest du es spätestens nach dem 21. Mai 1997.
Ich bekomme heute noch Gänsehaut.
Über Mike Büskens wird gesagt, er sei ein Fußballromantiker. Was und wie Sie es in diesem Gespräch sagen, unterstreicht es.
Ja, ich mag es „old school" wie man so sagt. Die Glückauf-Kampfbahn zum Beispiel, die hat was für mich. Damit verbinde ich Tradition. Ich habe mich dort mal umziehen dürfen. Entweder rümpfst du dort die Nase, weil viele Jahre an den Umkleideräumen nichts gemacht wurde oder du spürst diesen Geist, diese Tradition und denkst an all die Spieler mit den großen Namen, die hier Fußballgeschichte geschrieben haben. Ja, ich bin ein Fußballromantiker. Ich finde diese Verbundenheit, das Schätzen von Werten sehr, sehr wichtig, gerade jetzt in diesen Zeiten, in denen der Fußball immer schnelllebiger wird. Es fehlen mehr und mehr diese Typen wie Rudi Assauer, mit denen du per Handschlag Dinge vereinbaren konntest, die dann auch galten. Das macht doch auch das Ruhrgebiet aus. Wenn du ein Arschloch bist, dann sagen dir das die Leute vor den Kopf, aber du hast kein Messer im Rücken. Hier sind die Menschen geradeaus und direkt. Hast du sie einmal für dich gewonnen, dann wirst du sie nicht mehr verlieren. Das sind Dinge, die schätze ich sehr.
War es nicht doch ein Kulturschock von Düsseldorf nach Gelsenkirchen zu kommen?
Nein. Für mich stand recht schnell fest, dass ich keine Lust hatte, so viel Zeit auf der Autobahn zu verbringen. Anfangs war es so gedacht, dass ich mir eine lange Autobahnfahrt sparen wollte, wenn es hier mal spät wird wie zum Beispiel nach Auswärtsspielen. Ich habe damals in der Schalker Straße gewohnt, und dann hat es sich so entwickelt, dass aus einer Zwischenlösung mehr wurde und ich hier geblieben bin. Jetzt lebe ich seit 25 Jahren in Gelsenkirchen. Ich habe hier meine Frau kennengelernt, habe durch Freunde mitbekommen, was es bedeutet auf der Zeche zu arbeiten und gesehen, welche Spuren der Strukturwandel hinterlassen hat. Meine Kontakte und die vielen Gespräche haben es mir leicht gemacht, hier Fuß zu fassen und heimisch zu werden.
In der 1990er Jahren hat die Vermarktung der Tradition, dieses Anknüpfen an die Vergangenheit keine Rolle gespielt. Heute heißt es Kumpel- und Malocherclub, gibt es den als Kohleflöz stilisierten Spielertunnel, Mythos-Touren und dergleichen mehr. Ist das nicht alles zu viel und nur noch Geschäft?
Es hat sich alles rund um den Fußball enorm beschleunigt. Die Vereine sind inzwischen millionenschwere Unternehmen. Das ist so, und dem kann sich auch Schalke 04 nicht verschließen. Aber gerade weil sich so viel verändert hat und weiter verändern wird, finde ich es wichtig, sich mit der Tradition dieses Vereins auseinanderzusetzen und mehr über die industrielle Vergangenheit des Stadtteils Schalke zu erfahren. Das sind die Wurzel des Vereins. Da ist es doch spannend zu erfahren, dass die Helden der Vergangenheit in diesem Stadtteil gelebt haben, mehr über den besungenen Schalker Markt zu erfahren. Dort hat Schalke seine Meisterschaften gefeiert. Das ist eine Tradition, die man pflegen sollte. Es geht darum, seine Wurzel nicht zu vergessen.
Es geht darum, seine Wurzel nicht zu vergessen.
Mal dabei gewesen bei einer Mythos-Tour?
Natürlich, sogar mehrfach. Mal mit der Schalker Stiftung, mal mit einer Jugendgruppe, und ich fand es immer wieder interessant, weil es immer wieder den einen oder anderen Aspekt gab, den ich noch nicht kannte.
Sie hatten Trainerstationen in Fürth oder Wien, hatten also schon mehrfach die Möglichkeit, Gelsenkirchen zu verlassen. Sie haben es nicht getan. Warum nicht?
Unsere Familie hat hier ihre Wurzel, meine Frau ist gebürtige Gelsenkirchenerin, unsere beiden Kinder sind in Gelsenkirchen geboren und gehen hier zur Schule. Ich habe mich hier immer wohlgefühlt und gerade im Trainergeschäft ist es notwendig, dass du einen Anker hast, einen Ruhepol, einen Platz, wo du abschalten kannst. Gelsenkirchen ist mein Hafen und das Ruhrgebiet meine Heimat geworden.
Über die Menschen haben wir schon gesprochen. Was schätzen Sie hier noch?
Das Ruhrgebiet ist sehr vielfältig, ob man die kulturellen Angebote nimmt oder auch die vielen Freizeitmöglichkeiten. Was sich hier etwa mit dem Fahrrad erkunden lässt, das ist einfach toll. Ab auf die Erzbahntrasse zum Beispiel entlang der ZOOM-Erlebniswelt über den Kanal bis zur Jahrhunderthalle nach Bochum. Das Ruhrgebiet hat sich stark gewandelt, aber das wissen viele leider noch gar nicht. Klar gibt es hier noch viel zu tun, gibt es noch immer große soziale Probleme. Man muss aber auch mal sehen, was hier schon alles angepackt und wie viel bewegt wurde. Es kann sich ja auch jeder Einzelne mal fragen, was er tun kann, um zum Beispiel soziale Probleme zu lösen.
So wie der FC Schalke 04 zum Beispiel mit seinen Kumpelkisten. Ist das eigentlich ein echtes soziales Engagement oder Teil einer cleveren Marketingstrategie?
Es ist doch eine gute Sache. Und wenn man etwas Gutes tut und damit in Verbindung gebracht wird, muss man sich dann dafür schämen? Natürlich wird Schalke mit den Kumpelkisten auch sein Image verbessern. Aber es ist doch entscheidend, dass die Hilfe bei den Leuten ankommt, darauf kommt es doch an. Wir haben im letzten Jahr an der Schule meiner Kinder, dem Grillo-Gymnasium, weit über 100 solcher Kisten mit Spielzeug gepackt. Der Inhalt dieser Kisten hat vielen Kindern geholfen. Wenn auf einer solchen Kiste Schalke 04 steht, und die Kinder sich freuen, dann kann ich da nichts Schlechtes erkennen, im Gegenteil. Es ist doch geradezu die Pflicht derer, die auf der Sonnenseite des Lebens stehen, sich zu engagieren. Dazu zählen wir Fußballer allemal.
Vor 20 Jahren gab es ein weiteres Ereignis in dieser Stadt, das am 6. und 7. Mai gefeiert wird: 20 Jahre Bundesgartenschau auf Nordstern. Da sind auch ein paar Eurofighter dabei.
Ja, da bin ich auch dabei. Ich denke, das wird eine gute Veranstaltung. Die Bundesgartenschau war ein großes Ding für die Stadt. Der Nordsternpark mit dem Amphitheater, dem Kinderland und vielen anderem, woran die Leute heute ihren Spaß haben. Was dort auf dem Zechengelände entstanden ist, ist einer der schönsten Orte der Stadt. Das muss gefeiert werden.
Am 21. Mai steigt dann das nächste Fest in der Veltins-Arena mit dem Spiel der Eurofighter. Spielen Sie mit, trotz der Meniskusverletzung?
Das Spiel ist der Grund, warum ich die Meniskusverletzung habe operieren lassen. Ich möchte unbedingt dabei sein, darauf arbeite ich hin. Es ist das Ziel überhaupt bis zum Mai. Ich wusste, dass es ohne Operation vielleicht eng würde. Dieses Spiel aber, das ist der Moment, dem ich entgegenfiebere, glauben Sie mir. Die Jungs wiederzusehen, einen tollen Abend mit über 60.000 Fans zu verbringen, noch einmal alles Revue passieren zu lassen. Das ist es doch, was den Fußball ausmacht. Was am Ende wirklich bleibt, das sind doch diese großen Momente, diese Emotionen. Deshalb freuen wir uns alle, noch einmal aufzulaufen und das, was vor 20 Jahren passiert ist, wie einen Film in unserem Inneren ablaufen zu lassen.
Dieses Spiel, das ist der Moment, dem ich entgegenfiebere.
Blicken wir zum Schluss des Gesprächs auf die Gegenwart. Wie steht es um Schalke 04?
Wir müssen aus den vergangenen Jahren etwas lernen, nämlich dass Schalke 04 mal wieder eine Kontinuität braucht. Wir haben jetzt alle Trainertypen gehabt, ob erfahren, alte Schule oder modern, aus den eigenen Reihen oder sogar einen Champions-League-Sieger. Aber wir standen dann doch immer wieder an dem Punkt, an dem wir gesagt haben: Scheiße, eigentlich haben wir uns doch mehr versprochen. Darauf wurde dann reagiert, aber letztendlich hat es uns auch nicht dahin gebracht, wo wir uns immer wieder sehen und wo wir auch hin möchten. Deshalb sollten wir diesmal einen anderen Weg gehen und die Dinge zusammen durchstehen. Das heißt nicht, dass man blauäugig ist und die Realität aus dem Blick verliert, aber immer wieder dieser Schrei nach Veränderung nach relativ kurzer Zeit, das hat auch nicht zum Ziel geführt. Das Wichtigste ist es einen roten, nein, einen blauen Faden zu entwickeln und sich an dem zu orientieren. Das ist es, was ich an dem immer schnelllebiger werdenden Fußball nicht mag. Gewinnst du zweimal hintereinander, tragen sie dich mit der Sänfte durch die Stadt. Verlierst du aber zweimal, dann wirst du wie die Sau durch´s Dorf getrieben. Das ist krank, wie sich der Fußball da entwickelt hat. Auch die Spieler werden immer gläserner. Wir haben doch früher auch mal Scheiße gebaut, aber das hat keiner so wahrgenommen. Heutzutage macht jemand ein Foto, stellt es bei Facebook ein, und dann ist es in der Welt.
Aber um auf die Frage zurückzukommen. Auch in der erfolgreichen Zeit unter Huub Stevens ging es auch nicht nur bergauf, auch da gab es ein paar Wellentäler. Aber Rudi Assauer hat gesagt, dass wir das gemeinsam durchstehen. Am Ende standen dann drei Titel. Deshalb wünsche ich dem Verein die Ruhe und die Kraft, die Entwicklung gemeinsam durchzustehen. Das passt doch auch zu Gelsenkirchen, zu dieser Stadt: Die Dinge offen und ehrlich ansprechen und dann gemeinsam einen Weg finden. Das ist viel besser als Luftschlösser zu bauen, die dann an der Realität zerschellen.